HARVARD BUSINESS MANAGER MAGAZINE Harvard_Business_Manager__Juli_2017 | Page 40

SCHWERPUNKT KARRIERE

„ STILLE IST DER SCHLÜSSEL, UM KLAR DENKEN ZU KÖNNEN, UND ERHÖHT DIE CHANCE, DIE RICHTIGEN FRAGEN ZU STELLEN.“

länger es einem gelinge, Informationen aufzunehmen, bevor man anfängt, im Kopf eine Geschichte daraus zu spinnen, desto wahrscheinlicher sei es, dass wirklich neue Hypothesen herauskommen. „ Solange Sie wirklich zuhören, statt alles, was Sie hören, in Ihre Geschichte einzupassen – das ist in meinen Augen: ‚ nicht zuhören‘ –, stellen Sie gute Fragen. Denn dann sind Sie noch nicht sicher, worum es eigentlich geht.“
Eine der „ verblüffendsten Eigenschaften“ von Cirque-du-Soleil-Gründer Laliberté ist in Lamarres Augen, dass er Mitarbeiter, die eine verrückte Idee haben, auffordert, mehr darüber zu erzählen, „ während die meisten auf die Bremse treten würden“. Alle anderen, die mit dabeisitzen, mögen skeptisch sein, aber Laliberté sagt: „ Okay, erzählen Sie weiter. Ich bin noch nicht überzeugt, aber erzählen Sie weiter.“ Simon Mulcahy, einer der Manager in Benioffs Topteam bei Salesforce, sagt, es brauche eine bewusste Anstrengung, die an- deren weiterreden zu lassen. Deshalb bläut er sich in Meetings immer wieder ein: „ Sag nichts. Stell Fragen. Sag nichts. Stell Fragen.“
Gute Zuhörer versuchen sich auch von vorge- fertigten Meinungen zu lösen. J. Scott Di Valerio, früher CEO von Coinstar und heute CFO bei Retail- MeNot, ermahnt sich selbst immer wieder, „ bei null anzufangen“, wenn er Menschen zuhört, mit denen er schon früher einmal zu tun gehabt hat. Vermutungen darüber, was sie glauben, oder Erinnerungen daran, wie wertvoll( oder wenig wertvoll) ihr Input beim letzten Mal war, verhindern nur allzu leicht, zu verstehen, was diese Menschen jetzt tatsächlich sagen wollen.
Deval Patrick, ehemaliger Gouverneur des US- Bundesstaats Massachusetts und aktuell Managing Director bei der Beteiligungsgesellschaft Bain Capital, verfolgt eine andere Taktik. Er ist ein großer Verfechter der „ Kraft der Pause“. „ Wir scheinen alle zu glauben, jede Gesprächspause füllen zu müssen.“ Diesen Impuls zu unterdrücken habe ihm schon oft genutzt. Vor allem wenn jemand
AUTOR
HAL GREGERSEN ist der Executive Director des MIT Leadership Center, Dozent für Füh- rung und Innovation an der MIT Sloan School of Management und Gründer des 4-24 Project.
„ sich gerade sehr schwertut, dem Chef zu sagen, dass etwas nicht gut läuft. Wenn Sie ein, zwei Sekunden warten, holen diese Mitarbeiter einmal tief Luft, und dann legen sie los.“ Eine einfache Pause wird mit mehreren „ Schichten wertvoller Informationen“ belohnt.
GEWOHNHEITEN ETABLIEREN
Um der Isolation zu entkommen und mit den Veränderungen in der Welt Schritt zu halten, braucht ein CEO eine konzertierte Aktion. Bettinger zumindest ist der Meinung, dass so eine Aktion alle Mühe wert ist. „ Insgeheim zu hoffen, man werde schon einen Weg finden, um an diese Informationen zu kommen, war meiner Meinung nach immer schon gefährlich“, sagt er. Und auch Catmull befürchtet, dass Manager einer „ gefährlichen Abkopplung“ zum Opfer fallen, wenn sie nie an die Grenzen dessen gehen, was sie wissen und was sie nicht wissen. Das soll Pixar nicht zum Verhängnis werden; deshalb hat Catmull eine Reihe von Institutionen und Verfahren entworfen, um „ Trägheit systematisch zu bekämpfen“. Doch Catmull und Bettinger sind Ausnahmen. Durch mehrere Hundert Befragungen habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Mehrzahl der Topmanager das Dilemma der CEO-Machtstellung zwar kennt, bisher aber entweder nicht die Entschlossenheit oder aber keinen Weg gefunden hat, das Problem konsequent und nachhaltig zu bekämpfen.
Dabei ist die Lösung nicht schwer: Verlassen Sie noch heute Ihr Büro und verbringen Sie mehr Zeit damit, sich zu irren, sich unwohl zu fühlen und still zu sein.
Auch wenn Sie kein CEO sind, werden Sie von einem auf neue Erkenntnisse ausgelegten Führungsstil profitieren. SAP-Chef Bill McDermott sagt, Manager stoßen auf dem Weg nach oben schnell an ihre Grenzen, wenn sie nicht in der Lage sind, forschende und intelligente Fragen zu stellen. Auf den oberen Hierarchieebenen eines Unternehmens haben diejenigen die größten Erfolgschancen, sagt er, die „ eine schwierige Situation mit Fragen bezwingen können“.
Das CEO-Dilemma betrifft in Wahrheit alle Manager. Jede Führungsrolle schafft eine Isolationsblase, die durch Einfluss und Macht zustande kommt. Sobald Sie zu viele Ebenen zwischen sich und den ausführenden Mitarbeitern einziehen und sobald die Leute Ihnen keine Informationen mehr vorlegen wollen, die Sie vielleicht belasten, sinken die Chancen, dass Sie auf etwas stoßen, von dem Sie nicht wussten, dass Sie es nicht kennen, rapide – und irgendwann ist es zu spät. Ändern Sie jetzt Ihr Verhalten und bringen Sie das in Ordnung. Ersetzen Sie Ihre alten Fragen durch neue, dann gibt es für Sie vielleicht schon gar kein Dilemma mehr, bis Sie im Chefbüro ankommen.
© HBP 2017 siehe Seite 110
40 HARVARD BUSINESS MANAGER JULI 2017