Goldilocks Sonderausgabe: Trendstudie | Page 10

Essay


Der radikale Kunde


Ein exklusives Essay von Prof. Dr. Norbert Bolz



Radikale Individualisierung



Individualität ist heute ein religiöses Heilsversprechen. Das Heil kam früher entweder von Gott oder von der Gesellschaft. Heute finden wir zum Heil in der Therapie, sei es des Psychoanalytikers, des Homöopathen oder des Unternehmensberaters. Das postmoderne Individuum sucht die Selbsterlösung in der Beziehung zu sich selbst, in der Sorge um sich. Das Selbst ist nichts anderes als die Selbstbeurteilung einer Person. Mit anderen Worten: Was Individualität heißt, ist allein Sache des jeweiligenIndividuums. Es begründet sich zureichend in dem bloßen Anspruch, es zu sein. Die Individualität tritt also mit dem selbstverständlichen Anspruch der Eigenrichtigkeit auf.

Das ist für die Wirtschaft deshalb von größter Wichtigkeit, weil das eigenrichtige Individuum auf den Märkten als radikaler Kunde auftritt. Dieses Phänomen hat eine klar benennbare Ursache: den Verlust jeglicher Gewissheit. Früher haben die Religionen, das soziale Rollengefüge oder die Philosophie des Fortschritts den Menschen Orientierung und Zukunftsgewissheit gegeben. Heute bestimmen Ungewissheit, Unübersichtlichkeit und Unberechenbarkeit die alltägliche Normalität.

Es gibt keinen äußeren Maßstab mehr. Wenn aber nichts mehr gewiss ist, beruft sich das Individuum auf seine Eigenrichtigkeit.


Hier ergibt sich nun eine für unser Thema entscheidende Analogie. Wie Geld nur noch durch Geld gedeckt ist, ist Individualität heute nur noch durch sich selbst gedeckt: Die Eigenrichtigkeit des Individuums entspricht exakt dem Eigenwert des Geldes. Nur das Individuum selbst kann sagen, was seine Individualität ausmacht. Auch das Geld hat keinen äußeren Maßstab mehr (Goldstandard); es begründet sein Funktionieren und seine Geltung durch die Errechnung von Errechnungen – auf die wir vertrauen! Das Einzige, was hier zählt ist: Es läuft! Als eigenrichtiges Individuum ist der Kunde souverän. Diesen radikalen Kunden stützt medientechnisch ein Point-Casting, also ein computergestütztes Mikromarketing. Dabei entstehen Persönlichkeitsprofile der Kunden. Ein Individuum ist für das Marketing eine Datenspur im Netz. Der Computer schafft durch Feedback-Schleifen ein Kunden-Pattern, mit dem das Marketing dann zaubern kann. Man ist versucht, zu sagen: Das postmoderne Individuum ist eine Erfindung der Datenbanken, eine Marketing-Idee im Zeitalter des Computers. So wird Individualität als Massenware technisch möglich.

Casual Banking



Der ökonomische Strom des modernen Lebens verzweigt sich in Millionen Bewässerungskanäle zufälliger, individueller Entscheidungen. Und diese Entscheidungen haben nur eines gemeinsam: Sie vollziehen sich geldförmig. Es ist deshalb sinnvoll, Geld als Kommunikationsmedium zu betrachten. Im Zeitalter von Cloud Computing und digitaler Währung (Bitcoin) sind nicht nur mobiles
Bezahlen, sondern auch Transfers vom Smartphone aus zur Selbstverständlichkeit geworden. Und technisch wäre schon heute möglich, was Ming Zeng als Zukunft der Geldgeschäfte prognostiziert hat: zahlen per Fingerabdruck.

Banken gehören zu den ältesten Institutionen der Neuzeit. Völlig zu Recht assoziiert man sie mit der prosaischen und sterilen Welt von Buchhaltung und Bürokratie, die dem radikalen Kunden verhasst ist. Dass jeder Banking, aber niemand Banken braucht, ist ein Satz, der so alt ist wie das Online-Banking. Er stammt von Howard Anderson. Dieser Satz ist aus der Perspektive des radikalen Kunden formuliert, der sich schon an die neue Computerwirklichkeit des Weltgeldes, die auch „Softnomics“ heißt, gewöhnt hat. Mit den neuen Standards wie Electronic Cash, Electronic Banking und Home Banking hat sich das Banking schon längst von den Banken emanzipiert. Unsere Kreditkarten werden immer smarter, das heißt, sie verschränken den Geldfluss mit dem Datenfluss. Mit Recht hat deshalb Alvin Toffler das Geld der postmodernen Welt als „supersymbolisch“ bezeichnet.

Der radikale Kunde braucht also Banking, aber keine Bank. Oder anders gesagt: Die Bank muss sich als freundliche Benutzeroberfläche präsentieren. Sie muss also genau das leisten, was den Software-Designern damals gelungen ist, als sie die Bedienung von Computern von alphanumerischen Befehlsketten auf Icons und Klicks umstellten. Informationsverarbeitung, Beratung und Risikomanagement müssen zu einer integralen Service-Leistung verschmelzen. So wie die Datenströme und die Geldströme kaum mehr zu trennen sind, ist der Bankkunde immer auch jemand, der Rat und Orientierung sucht. Damit wird die kommunikative Kompetenz einer Bank zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Denn der radikale Kunde erwartet, dass die postklassische Bank alles, was mit seinen Zahlungen zu tun hat, konsultativ und operativ abdeckt.

Zwischen den radikalen Kunden und die Bürokratie des Geldes schiebt sich deshalb die Benutzeroberfläche der Finanzdienstleistung. Passgenaue Information, integrale Beratung und Risikomanagement – das ist zunächst einmal eine Frage des Interface Design. Wie optimiert man die Benutzeroberfläche einer Bank? Das Mission Statement müsste lauten: Wir setzen die modernsten Kommunikationstechnologien ein, damit Menschen sich wirklich um Menschen kümmern können. Gerade
die Digitalisierung und damit Beschleunigung des Geldgeschäfts gibt Zeit für Beratung. Heute werben die Banken damit, dass sie sich dem radikalen Kunden in seiner
eigenrichtigen Individualität persönlich zuwenden – dass sie „an seiner Seite stehen“, oder einen Kredit anbieten, der „wie für ihn gemacht“ ist. Dass das millionenfach geschehen soll, zwingt zur Routinisierung von Dienstleistungen, die aber doch ganz persönlich wirken sollen. Die Amerikaner nennen das Staged Authenticity“, inszenierte Echtheit der persönlichen Zuwendung. Doch das wird leicht durchschaut und weckt dann Misstrauen. Soziologen wissen, dass Vertrauen der wichtigste Mechanismus zur Reduktion von Komplexität ist.
Vertrauen heißt lateinisch „creditum“, also Kredit. Hier steckt deshalb ein Problem für die Banken, weil Vertrauen ambivalent ist. Es schließt nämlich hohe Unsicherheit und Risiko ein. Vertrauen kann enttäuscht werden. Umso wichtiger wird deshalb für die Finanzdienstleister Emotion Work. Und damit sind wir beim Begriff des Casual Banking.

„Casual“ bedeutet zunächst einmal: zwanglos, lässig, beiläufig – doch das will gelernt sein. Es geht im Grunde um die Sei-spontan-Paradoxie, die durch trainierte Formlosigkeit, durch Studied Informality aufgelöst werden soll. Der Service einer Bank ist also zunehmend Emotion Work (Hochschild), beziehungsweise Emotional Design (Wippermann). Als Angebot einer Bank ist Casual Banking“ deshalb so anspruchsvoll, weil nach wie vor gilt: Bei Geld hört der Spaß auf. Der Umgang mit Geld ist lebenskonservativ. Deshalb ist es nach wie vor schwer, Menschen dazu zu bringen, die Bank zu wechseln. Deshalb müssen neue, interessante Kunden vor allem in den Jugendszenen anvisiert werden.

Der radikale Kunde ist der Souverän der Wirtschaft. Daraus folgt aber: Was eine Bank des 21. Jahrhunderts produziert, muss sie vom Kunden lernen. Dazu reicht aber nicht das Erfragen von Kundenwünschen. Es gilt vielmehr, die Optik des radikalen Kunden einzuüben. Und wenn man den Markt vom Kunden aus betrachtet, verwandelt sich das Produkt in eine Problemlösung oder eine Wunscherfüllung.

Prof. Dr. Norbert Bolz:
Hauptaspekt seiner Publikationen sind die Veränderungen der modernen Gesellschaft durch Phänomene der Massengesellschaft, durch Medien und einen sich ausbreitenden Wohlfahrtsstaat.