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Zuhause im virtuellen Ort
Wenn es um das Trendthema virtuelle Realität geht, ist Philosoph Tobias Holischka ein gefragter Experte –
und das, obwohl er den Begriff eigentlich für sinnlos hält. In seiner Doktorarbeit „CyberPlaces“ nähert sich
Holischka auf philosophische Weise dem virtuellen Ort und verbindet computergenerierte Virtualität mit
Ortsphänomenologie – illustriert anhand des Computerspiels „Minecraft“.
In der Tiefsee tauchen,
Konzerte aus der ersten
Reihe
mitverfolgen,
Zombies jagen – und
das alles vom heimi-
schen Sofa aus: Virtual
Reality ist der große
Trend in der Technik-
branche. Mit speziellen
Brillen versprechen die
Hersteller uns in eine
„virtuelle Realität“ zu
versetzen. Was klingt
wie ein Schritt in eine
andere Realität, eine Scheinwelt, beschreibt tatsächlich eine Erweite-
rung unserer bekannten Realität, erklärt Dr. Tobias Holischka, wis-
senschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Philosophie der KU.
„Virtuelles und Materielles stehen sich gegenüber, nicht Reales und
Virtuelles. Virtualität ist per se Teil der Realität. Man kann virtuelle
Realität höchstens als Einschränkung verstehen, als Teil des Wirkli-
chen, der im Virtuellen ist.“ Davon, dass Virtualität nicht materiell ist,
dürfe man sich nicht täuschen lassen. „Man sollte all das als wirklich
verstehen, was eine Wirkung auf uns hat – also grundsätzlich auch
das, was am Computer passiert“, sagt Holischka.
Dieses Verständnis ist auch die Grundlage für seine Doktorarbeit:
„Mein Ansatz war zu zeigen, dass es auch im Virtuellen Orte geben
kann, die wir betreten können, obwohl wir dort keine materielle
Grundlage haben. Trotzdem ist aber das, was einen Ort charakteri-
siert, auch im Virtuellen verwirklicht.“ Schlüssel zu diesem Verständ-
nis ist die Phänomenologie, also jene philosophische Strömung, die
versucht, das, was wir erleben, so zu beschreiben, wie es uns unmittel-
bar erscheint. „Wir haben viel wissenschaftliches Wissen, das oftmals
überlagert, was wir tatsächlich erleben“, erklärt Tobias Holischka. Ob
wir die Sonne als Quelle von Licht und Wärme erleben oder als Zen-
tralgestirn unseres Sonnensystems betrachten, seien zwei Perspekti-
ven auf das Gleiche – einerseits die Wahrnehmung und andererseits
die Interpretation anhand unseres Vorwissens. „Die Phänomenolo-
gie versucht, das Vorwissen auszublenden und einfach zu schauen,
wie ein Phänomen auf uns wirkt.“ Für den Ort bedeutet das: „Ob er
virtuell oder nicht virtuell ist, der Ort ist immer mit dem gleichen
Erleben, der gleichen Ortserfahrung verbunden.“ Eine der zentralen
Aufgaben der Philosophie ist es, Begriffe zu klären und voneinander
abzugrenzen, um eine inhaltliche Auseinandersetzung damit zu er-
möglichen. Holischka betont daher nicht nur die Einheit von Virtua-
lität und Materialität als Teile des Wirklichen, sondern unterscheidet
auch die Begriffe Ort und Raum: „Die erste Erfahrung ist der Ort.
Dann erst kommt der Raum als Abstraktion der Ortserfahrung.“ Die
Unterscheidung illustriert er, indem er sein Büro beschreibt: „Man
könnte sagen, es ist zehn Quadratmeter groß.“ Der Raum werde dabei
über messbare, geometrische Daten beschrieben. Einen Ort zeichne
aber etwas Anderes aus: „Das Büro hier ist ein Ort, an dem gearbeitet,
an dem Wissenschaft betrieben wird, ein exklusiver Ort, weil nicht
jeder hineindarf. Das ist es, was die Ortsphänomenologie tut: Sich an-
zuschauen, wie wirkt ein Ort.“
Auch die Bezeichnung des Internets als schier grenzenloser Raum, als
Cyberspace, ist daher aus Holischkas Sicht nicht treffend. Der klas-
sische Nutzer erlebe das Internet als einzelne Orte, als verschiedene
Cyberplaces – ob beim Einloggen über den Browser, beim Suchen mit
Google oder beim Posten auf seiner Facebook-Seite. Programmierer
hätten bei ihrer Arbeit dagegen das Raumkonzept vor Augen und
konstruierten so virtuelle Orte. „Das ist in der Essenz nicht anders
als beim Architekten. Er schaut, wie die Maße sind, wie etwas wirkt
im Raum – aber wenn das Haus steht, dann wird es ein Ort“, sagt der
Eichstätter Philosoph. Sowohl Architekt als auch Programmierer ha-
ben dabei ihre Grenzen: „Wir können als Menschen nichts erzeugen,
was wir uns nicht vorstellen können.“ Der virtuelle Ort ist durch das
menschliche Vorstellungsvermögen begrenzt, aber auch auf techni-
scher Seite nur potentiell unendlich. Tatsächlich bräuchte unendlich
großer Cyberspace nämlich auch unendlich viel Platz, Energie, Res-
sourcen.
Als zentrales Beispiel für virtuell erzeugte Wirklichkeit dient Holisch-
ka in seiner Doktorarbeit das Computerspiel „Minecraft“. Der Nut-
zer kann hier in einer 3D-Welt Konstruktionen aus würfelförmigen
Blöcken bauen, sein Überleben durch das Sammeln von Ressourcen
und im Kampf gegen Monster sichern und die „Minecraft“-Welt er-
kunden. Gerade aufgrund der speziellen Optik hat sich Holischka für
dieses Spiel entschieden. Viele aktuelle Spiele imitierten mit fotoreali-
stischer Grafik die materielle Wirklichkeit, um den Immersionseffekt,
das Eintauchen in die Spielwelt, zu verstärken. Ganz anders dieses:
„Minecraft eignet sich so gut, weil man ständig sieht, dass es künstlich
ist. Es zeigt in seiner Bildlichkeit immer, dass es ein Bild ist, hier liegt
kein Täuschungsversuch vor – und trotzdem funktioniert die Ortser-
fahrung“, so Holischka. „Spieler loggen sich ein, bauen Häuser, züch-
ten Schafe, fühlen sich heimisch. Sie nehmen die Welt als Welt wahr,
die zwar künstlich ist, aber dennoch alle Ortsaspekte entfaltet.“
In Spielen wird laut Holischka der Ortscharakter besonders deut-
lich, denn hier habe der Nutzer eine dreidimensionale Welt, in der er
sich mit seinem Avatar bewegen und mit anderen interagieren kann.
„Solche Welten brauchen natürlich eine materielle Grundlage – Com-
puter, Server, Kabel. Aber was ich bei Minecraft sehe, sind nicht die
Bits und Bytes, sondern der Sinn, der darin steckt, und der mehr ist
als die Summe der materiellen Grundlagen. Eine Abfolge aus Nul-
len und Einsen ist nur eine Beschreibung, wie etwas gespeichert ist,
nicht aber was gespeichert ist.“ Auch wenn sich der Ortscharakter an
Spielen sehr gut zeigen lässt: Virtuelle Orte sind nicht per se fiktional.
Holischka ist es wichtig, virtuell und fiktional zu unterschieden. Dass
Virtuelles ganz wirklich und nicht-fiktional sein kann, zeige das Bei-
spiel Girokonto: „Keiner würde sagen, das ist gar kein echtes Geld,
was dort liegt – schließlich kann ich damit genauso zahlen wie mit
Scheinen. Es hat eine Wirkung, ist also wirklich.“
Entsprechend betrachtet Holischka das Virtuelle auch nicht an sich
als Gefahr. Die häufig angeprangerte Realitätsflucht sei eher eine
Flucht vor dem Alltag – die aber auch analog möglich sei: „Wer viel
Zeit in seinem Kaninchenzuchtverein verbringt, drückt sich ebenso
vor dem Alltag, wie jemand, der stundenlang am PC sitzt.“ Auch wem
die fiktionale Komponente Sorgen bereitet, hält Holischka die analoge
Realität entgegen: „Wenn Kinder, ganz analog, Cowboy und Indianer
spielen, ist das Spiel wirklich, aber das, was sie sich vorstellen, ist fik-
tional. So ist es bei Computerspielen wie World of Warcraft auch. Egal
ob man bei Cowboy und Indianer oder bei World of Warcraft stirbt –
man ist nicht wirklich tot.“
Zu einem reflektierten Umgang mit dem Virtuellen regt Tobias Ho-
lischka dennoch an, denn wie bei jedem anderen Medium müsse
auch der Umgang mit Computer und Internet erlernt und sinnvoll in
den Alltag integriert werden. „Wenn man Kinder den ganzen Tag vor
den Fernseher setzt, verwahrlosen sie. Aber wenn man das dosiert,
sie zum Beispiel Wissenssendungen schauen lässt, kann das toll sein.
Ebenso muss man mit dem Computer vernünftig umgehen.“ Eine
Auseinandersetzung mit der „virtuellen Realität“ ist laut dem Philo-
sophen wichtig, denn immerhin bewegen sich schon heute Millionen
von Menschen in unterschiedlichsten Kontexten im Virtuellen.
Indem er sich mit Virtualität phänomenologisch beschäftigt, will To-
bias Holischka Grundlagen für den gesellschaftlichen Diskurs schaf-
fen. Die Unsicherheit vor dem neuen Medium will er ein Stück weit
nehmen, indem er zeigt, dass viele alte Begriffe – wie eben der Ort –
auch auf die erweiterte Wirklichkeit noch passen. „Wir flexibilisieren
den Begriff des Wirklichen zunehmend. Wirklichkeit wird komple-
xer, aber wir verstehen damit vielleicht sogar besser, was Wirklichkeit
eigentlich meint.“ Je eher die Gesellschaft begreife, dass Virtualität
schlicht Teil der Wirklichkeit ist, desto eher könne sie rational dis-
kutieren, wie sie damit umgehen möchte. Eben darin sieht Holischka
die Relevanz seiner Arbeit: „Es fühlt sich ein bisschen an, wie Pionier
zu sein. Ich bin der, der den Menschen klarmacht, was das ist, was
wir da haben – derjenige, der neue Phänomene auf geistiger Ebene
erschließt.“
Promovieren im Graduiertenkolleg –
ein Blick hinter die Kulissen
Wie entwickle ich das Thema meiner Doktorarbeit? Wo finde ich
Material für meine Arbeit? Mit wem kann ich mich inhaltlich austau-
schen? Tobias Holischka promovierte im Rahmen des interdisziplinä-
ren Graduiertenkollegs „Philosophie des Ortes“ an der KU und fand
dort Antworten auf diese Fragen.
Inwiefern hat Sie das Graduiertenkolleg in der Findung und
Konkretisierung Ihres Themas vorangebracht?
Hier an der Uni und konkret im Rahmen des Graduiertenkollegs
„Philosophie des Ortes“ bin ich in das Thema Ortsphänomenologie
erst hineingekommen und habe verstanden, warum es wichtig ist, in
diesem Bereich zu forschen. Fragen wie „Was ist Heimat?“ wurden
dort diskutiert. Aber was niemand angesprochen hat, war der elektro-
nische Teil. Ich meine, das ist doch ein Teil unserer Lebenswelt: Wir
sitzen den ganzen Tag vor unseren Computern. Ich hatte im Studium
Informatik im Nebenfach, bin ein bisschen technikaffin, und für mich
war klar: Da passiert auch etwas. Vielleicht etwas anders, aber mit
Parallelen – und man kann Virtuelles und Materielles durchaus verbin-
den. Das war der ursprüngliche Ansatz meiner Arbeit.
Wie hat Ihnen das Graduiertenkolleg im weiteren Verlauf Ihrer
Promotion geholfen?
Es war für mich sehr wichtig, weil viele Teilnehmer aus anderen Dis-
ziplinen mit dabei waren und sich mit der Ortsthematik beschäftigt
haben. So gab es eine gewisse wechselseitige Befruchtung. Ich war
zwar der Einzige mit einem computertechnischen Thema, aber alle
haben an der Ortsthematik gearbeitet. Für mich war es wichtig und
spannend zu sehen, wie gehen andere da ran, wie bewältigen sie
gewisse Fragen und Probleme. Für mich war das immer ein Spiegel
und Ideengeber: Gibt es diese Fragen und Aspekte, mit denen sich
die anderen beschäftigen, auch im Virtuellen? Außerdem hat mir das
Graduiertenkolleg natürlich geholfen durch das, was ein Graduier-
tenkolleg grundlegend tut: Man tauscht sich zu organisatorischen
Dingen aus, zum Beispiel: Wie schreibst Du? Wo bekommst Du deine
Bücher her? Fährst Du auf diese und jene Konferenz?