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62 I FORUM ders – es ist intuitiver, es ist natürlicher und nachher ist es effizienter, schneller eventuell und zielgerichteter. Aber immer ist die Basis eine gut geförderte Erst- oder Muttersprache, das ist die Basis für Mehrsprachigkeit. Gade: Mehrsprachigkeit sollte man nicht als konstantes Konzept im Sinne eines Persön- lichkeitszugs verstehen, sondern als ein Auf und Ab. Wer einen Intensivkurs Spanisch im Land absolviert ist erwiesenermaßen danach nicht zu unterscheiden von den mo- nolingualen Einheimischen. Aber das ist ein transientes Phänomen. In dem Moment, wo Sie wieder zuhause sind und in Ihrer heimi- schen Umgebung, verschwindet das wieder. Aber Sie können beim nächsten Spanienur- laub dennoch auf mehr zurückgreifen als vor Ihrem Kurs. Böttger: Es gab ja diesen Vorwurf, bilingual aufwachsende Kinder seien retardiert in der Sprachverwendung. (Gade: Ja, genau). Es ist aber eine Frage der Sprachpräferenz und der Umgebung. Die Forschung kann immer nur durch die Individualität von Spracherfahrun- gen an das Phänomen herankommen. Und dann können wir vielleicht bei bestimmten Gruppen – wie Kindern mit Migrationshin- tergrund – versuchen, zu verallgemeinern – ganz, ganz vorsichtig. Dann lassen Sie uns doch mal in den Alltag schauen. Ich fand den Vorschlag sehr inter- essant, zu sagen, in den Kitas, in den Kin- dergärten sollten Fremdsprachen integriert werden. Schon vor Jahren war es hip, seine Kinder in einen englisch- oder französisch- sprachigen Kindergarten zu schicken. Ich war da nicht, zweifle auch an, dass das un- glaublich gewinnbringend ist. Vor allem für Migrantenkinder, die wohl nicht aus Groß- britannien oder Frankreich kommen. Kratzmann: Es geht mir nicht darum Fremd- sprachen zu integrieren, sondern darum, die Erstsprache der Kinder mit Migrationshin- tergrund in der Einrichtung zu berücksich- FORUM I 63 tigen. Wir wissen, dass das kaum geschieht. Wir wissen, dass die Kindertageseinrichtun- gen eher assimilativ sind. Sprich: In erster Linie soll die Instruktionssprache Deutsch gesprochen werden. Man findet kaum irgen- deine Form der Anerkennung oder der Inte- gration der Erstsprachen der Kinder in den Einrichtungen. Es gibt welche, die das schaf- fen – aber das ist eher die Minderheit. Wie sieht so eine Anerkennung oder Integra- tion aus? Kratzmann: Das zielt auf das, was Sie, Frau Gade, gesagt haben zur sozialen und emo- tionalen Komponente von Mehrsprachig- keit. Also nicht zu sagen: „Wir sprechen hier nur Deutsch.“ Das ist keine Wertschätzung, sondern zunächst mal nur Ausschluss. Und Wertschätzung in der Kindertageseinrich- tung zeigt sich für mich eben auch darin, dass man sich erstmal informiert über die Umgebungssprache der Kinder. Dass päd- agogische Fachkräfte sich mal hinsetzen mit den Eltern und auch mal darüber sprechen: Wie ist das denn so zuhause? Oder ganz ein- fach zu fragen, wie man den Namen richtig ausspricht. Das Ganze kann man auch rea- lisieren, indem die verschiedenen Sprachen zum Beispiel in der Raumgestaltung sichtbar sind. Hinzu kommt mehrsprachiges Infor- mationsmaterial über die Entwicklung von Kindern. Das gibt es zuhauf, auch kostenlos – aber es findet sich nicht in den Einrichtun- gen. Dann ginge es außerdem um mehr- sprachiges Material für die Kinder, über das man mit Ihnen ins Gespräch kommen kann. Bilderbücher zum Beispiel, in denen Gegen- stände in verschiedenen Sprachen abgebildet sind. Die sind ein wunderbarer Anlass, wo die Fachkraft mit einem Kind ins Gespräch kommen kann: Wie heißt das bei dir? Und wie heißt das in der deutschen Sprache? Also Hilfe geben, Sprache zu verknüpfen und Wörter zu übertragen. Und noch ein letzter Punkt: Ein Problem ist natürlich, dass wir sehr viele Sprachen haben. Deswegen kön- nen wir von unseren Fachkräften eben nicht erwarten, dass sie alle Sprachen sprechen. Aber man könnte zumindest ein paar wich- tige, elementare Sätze lernen. Wenn ich weiß, es kommt ein türkischsprachiges Kind, das überhaupt noch kein Deutsch kann, dann kann ich mir doch zumindest, zwei, drei Sät- ze aneignen, mit denen ich das Kind trösten kann, beispielsweise. Das zielt auch wieder auf dieses Sozial-Emotionale. Also so etwas denke ich, ist durchaus möglich und würde keine Überforderung darstellen. Gade: Wie ist das denn mit den Eltern? Es gibt ja diese landläufige Idee, dass Eltern ihr fremdsprachiges Kind in den Kinder- garten schicken, um sicherzustellen, dass es Deutsch lernt. Ist das tatsächlich so? Und wie würde das in Ihr Konzept Eingang finden? Weil ich meine, dieser Wunsch wird ja sicher auch, wenn nicht bewusst, unbewusst, dem Kind vermittelt, dass es nach erfolgreichem Abschluss des Kindergartens diese Dolmet- scheraufgabe hat und die Eltern entlastet, die deutsche Sprache zu lernen. Kratzmann: Der Wunsch ist da, der ist sehr deutlich da, das ist ihnen auch sehr wichtig und ich sehe da auch keinen Widerspruch zu den Dingen, die ich gesagt habe. Man kann so etwas wie sprachliche Inseln schaffen. Also es gibt Situationen, wo es Anregungen gibt für den Erwerb der deutschen Sprache. Das schließt ja nicht aus, dass in Freispiel- phasen beispielsweise zwei türkische Kinder, die miteinander gerne türkisch sprechen wollen, das auch tun. Nun untersuchen Sie Mehrsprachigkeit be- zogen auf den frühkindlichen Bereich ja als ein Phänomen, das sozusagen von außen an die Institution herangetragen wird, und nicht als etwas Selbstgewähltes. Wird der frühkindliche Bereich nicht ein bisschen überfrachtet, wenn man zum einen der Mehrsprachigkeit gerecht werden muss und man zusätzlich noch sagt, wir möchten aber auch gern noch eine weitere Fremdsprache vermitteln? Kratzmann: Ich bin keiner, der für Fremd- sprachenlernen im Kindergarten ist. Man kann das machen, es gibt diese bilingualen Modelle. Ob es eine Überfrachtung ist... glaube ich eigentlich gar nicht so sehr, weil Kinder ja durchaus in der Lage sind, drei Sprachen zu lernen auf einmal. Geht ja prin- zipiell auch. Aber ich würde jetzt nicht sagen, man braucht es unbedingt. Ich glaube es gibt im Moment andere Schwierigkeiten in der Kita. Wir haben ein großes Ressourcenpro- blem in der Kita, auch Fachkräftemangel. Böttger: Wien macht das aber. Wien ist ja ein melting pot. Da haben wir eigentlich eine Si- tuation, wie wir sie momentan auch bei uns vorfinden mit unglaublich vielen Sprachen. Und die Schulen berücksichtigen vor allem die Muttersprachen, stellen dafür auch für wenig Geld Muttersprachler ein, und vermit- teln spielerisch, auch im kulturellen Bereich, die Eltern werden mit eingebunden – kleine Dinge, die zeigen, diese Sprache hat einen Wert in der Kita oder auch in der Grundschu- le. Und dort dient dann Englisch als Vermitt- lungssprache. Was noch ein weiteres Thema ist: Wir wissen mittlerweile, dass Drei- und Vierjährige durchaus in der Lage sind, ihre Alphabetisierung schnell voranzutreiben. Die schreiben, auch wenn wir das nicht wol- len. Und wenn wir sie da nicht anleiten, dann fangen sie an, sich ihre eigenen Hypothesen zu bilden. Das geht nur mit einem Kontinu- um. Und wenn wir mal sehen, dass es bezo- gen auf Sprachen für diesen Übergang zum Teil noch keine Standards gibt, dann ist es auch eine Sache der Kultusministerkonfe- renz, endlich dafür zu sorgen, dass es ab dem Vorschulbereich schon ein Kontinuum gibt, das eventuell mit Mindeststandards arbeitet. Wer integrieren will, der hat auch die Pflicht, genau die Muttersprachen mitzubedenken und dafür zu sorgen, dass die Kinder diese auch weiterentwickeln können. Das heißt einfach: Ich muss ein bisschen Geld in die Hand nehmen. Rückschluss auf meinen Ein- gangssatz: Wien macht das. Machen wir den Sack zu – uns würde am Ende noch interessieren, wenn Sie jetzt noch eine Sprache lernen könnten auf Mutter- spracheniveau, welche wäre das? Gade: Russisch. Weil Dostojewski mein er- klärter Lieblingsschriftsteller ist und ich liebe es, Schriftsteller im Original zu lesen. Deswe- gen habe ich auch relativ viel Französisch ge- lernt, weil ich tatsächlich auch sehr gern Mo- lière lese. Deswegen – also völlig egoistisch. (Gelächter) Böttger: Spanisch. Weil meine Frau in Spanien geboren ist, als Deutsche, und die ersten vier Jahre Spanisch gelernt hat, in Deutsch- land dann mit fünf oder sechs Deutsch. Und heute noch Spanisch akzentfrei spricht und versteht. Kratzmann: Wahrscheinlich wäre es Tür- kisch. Aus beruflichen Gründen, weil ich mich mit dieser Gruppe schon länger stär- ker befasst habe. Und einiges wäre bestimmt leichter, wenn man die Sprache sprechen würde. ZUR PERSON Prof. Dr. Heiner Böttger ist Inhaber der Professur für Didaktik der englischen Sprache und Literatur an der KU. Er arbeitet unter anderem zu neurobiologi- schen und -didaktischen Aspekten des Spracherwerbs und begleitet aktuell einen bayernweiten Modellversuch zu bilingualem Grundschulunterricht. Prof. Dr. Miriam Gade war zuletzt wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehr- stuhl für Allgemeine Psychologie der KU. Mittlerweile ist Gade Professorin für Allgemeine Psychologie an der Medical School Berlin. Sie beschäftigt sich unter anderem mit den Kosten und Vorteilen von früher Mehrsprachigkeit. Prof. Dr. Jens Kratzmann ist Professor für Pädagogik mit dem Schwerpunkt frühe Kindheit an der Fakultät für Soziale Arbeit der KU. In einem vom Bun- desforschungsministerium geförderten Projekt untersuchte er, welche Fakto- ren für eine gelingende mehrsprachige Entwicklung von Kindergartenkindern bedeutsam sind. Prof. Dr. Jens Kratzmann, Prof. Dr. Miriam Gade, Prof. Dr. Heiner Böttger