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ders – es ist intuitiver, es ist natürlicher und
nachher ist es effizienter, schneller eventuell
und zielgerichteter. Aber immer ist die Basis
eine gut geförderte Erst- oder Muttersprache,
das ist die Basis für Mehrsprachigkeit.
Gade: Mehrsprachigkeit sollte man nicht als
konstantes Konzept im Sinne eines Persön-
lichkeitszugs verstehen, sondern als ein Auf
und Ab. Wer einen Intensivkurs Spanisch
im Land absolviert ist erwiesenermaßen
danach nicht zu unterscheiden von den mo-
nolingualen Einheimischen. Aber das ist ein
transientes Phänomen. In dem Moment, wo
Sie wieder zuhause sind und in Ihrer heimi-
schen Umgebung, verschwindet das wieder.
Aber Sie können beim nächsten Spanienur-
laub dennoch auf mehr zurückgreifen als vor
Ihrem Kurs.
Böttger: Es gab ja diesen Vorwurf, bilingual
aufwachsende Kinder seien retardiert in der
Sprachverwendung. (Gade: Ja, genau). Es ist
aber eine Frage der Sprachpräferenz und der
Umgebung. Die Forschung kann immer nur
durch die Individualität von Spracherfahrun-
gen an das Phänomen herankommen. Und
dann können wir vielleicht bei bestimmten
Gruppen – wie Kindern mit Migrationshin-
tergrund – versuchen, zu verallgemeinern –
ganz, ganz vorsichtig.
Dann lassen Sie uns doch mal in den Alltag
schauen. Ich fand den Vorschlag sehr inter-
essant, zu sagen, in den Kitas, in den Kin-
dergärten sollten Fremdsprachen integriert
werden. Schon vor Jahren war es hip, seine
Kinder in einen englisch- oder französisch-
sprachigen Kindergarten zu schicken. Ich
war da nicht, zweifle auch an, dass das un-
glaublich gewinnbringend ist. Vor allem für
Migrantenkinder, die wohl nicht aus Groß-
britannien oder Frankreich kommen.
Kratzmann: Es geht mir nicht darum Fremd-
sprachen zu integrieren, sondern darum, die
Erstsprache der Kinder mit Migrationshin-
tergrund in der Einrichtung zu berücksich-
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tigen. Wir wissen, dass das kaum geschieht.
Wir wissen, dass die Kindertageseinrichtun-
gen eher assimilativ sind. Sprich: In erster
Linie soll die Instruktionssprache Deutsch
gesprochen werden. Man findet kaum irgen-
deine Form der Anerkennung oder der Inte-
gration der Erstsprachen der Kinder in den
Einrichtungen. Es gibt welche, die das schaf-
fen – aber das ist eher die Minderheit.
Wie sieht so eine Anerkennung oder Integra-
tion aus?
Kratzmann: Das zielt auf das, was Sie, Frau
Gade, gesagt haben zur sozialen und emo-
tionalen Komponente von Mehrsprachig-
keit. Also nicht zu sagen: „Wir sprechen hier
nur Deutsch.“ Das ist keine Wertschätzung,
sondern zunächst mal nur Ausschluss. Und
Wertschätzung in der Kindertageseinrich-
tung zeigt sich für mich eben auch darin,
dass man sich erstmal informiert über die
Umgebungssprache der Kinder. Dass päd-
agogische Fachkräfte sich mal hinsetzen mit
den Eltern und auch mal darüber sprechen:
Wie ist das denn so zuhause? Oder ganz ein-
fach zu fragen, wie man den Namen richtig
ausspricht. Das Ganze kann man auch rea-
lisieren, indem die verschiedenen Sprachen
zum Beispiel in der Raumgestaltung sichtbar
sind. Hinzu kommt mehrsprachiges Infor-
mationsmaterial über die Entwicklung von
Kindern. Das gibt es zuhauf, auch kostenlos –
aber es findet sich nicht in den Einrichtun-
gen. Dann ginge es außerdem um mehr-
sprachiges Material für die Kinder, über das
man mit Ihnen ins Gespräch kommen kann.
Bilderbücher zum Beispiel, in denen Gegen-
stände in verschiedenen Sprachen abgebildet
sind. Die sind ein wunderbarer Anlass, wo
die Fachkraft mit einem Kind ins Gespräch
kommen kann: Wie heißt das bei dir? Und
wie heißt das in der deutschen Sprache? Also
Hilfe geben, Sprache zu verknüpfen und
Wörter zu übertragen. Und noch ein letzter
Punkt: Ein Problem ist natürlich, dass wir
sehr viele Sprachen haben. Deswegen kön-
nen wir von unseren Fachkräften eben nicht
erwarten, dass sie alle Sprachen sprechen.
Aber man könnte zumindest ein paar wich-
tige, elementare Sätze lernen. Wenn ich weiß,
es kommt ein türkischsprachiges Kind, das
überhaupt noch kein Deutsch kann, dann
kann ich mir doch zumindest, zwei, drei Sät-
ze aneignen, mit denen ich das Kind trösten
kann, beispielsweise. Das zielt auch wieder
auf dieses Sozial-Emotionale. Also so etwas
denke ich, ist durchaus möglich und würde
keine Überforderung darstellen.
Gade: Wie ist das denn mit den Eltern? Es
gibt ja diese landläufige Idee, dass Eltern
ihr fremdsprachiges Kind in den Kinder-
garten schicken, um sicherzustellen, dass es
Deutsch lernt. Ist das tatsächlich so? Und wie
würde das in Ihr Konzept Eingang finden?
Weil ich meine, dieser Wunsch wird ja sicher
auch, wenn nicht bewusst, unbewusst, dem
Kind vermittelt, dass es nach erfolgreichem
Abschluss des Kindergartens diese Dolmet-
scheraufgabe hat und die Eltern entlastet, die
deutsche Sprache zu lernen.
Kratzmann: Der Wunsch ist da, der ist sehr
deutlich da, das ist ihnen auch sehr wichtig
und ich sehe da auch keinen Widerspruch zu
den Dingen, die ich gesagt habe. Man kann
so etwas wie sprachliche Inseln schaffen.
Also es gibt Situationen, wo es Anregungen
gibt für den Erwerb der deutschen Sprache.
Das schließt ja nicht aus, dass in Freispiel-
phasen beispielsweise zwei türkische Kinder,
die miteinander gerne türkisch sprechen
wollen, das auch tun.
Nun untersuchen Sie Mehrsprachigkeit be-
zogen auf den frühkindlichen Bereich ja als
ein Phänomen, das sozusagen von außen
an die Institution herangetragen wird, und
nicht als etwas Selbstgewähltes. Wird der
frühkindliche Bereich nicht ein bisschen
überfrachtet, wenn man zum einen der
Mehrsprachigkeit gerecht werden muss und
man zusätzlich noch sagt, wir möchten aber
auch gern noch eine weitere Fremdsprache
vermitteln?
Kratzmann: Ich bin keiner, der für Fremd-
sprachenlernen im Kindergarten ist. Man
kann das machen, es gibt diese bilingualen
Modelle. Ob es eine Überfrachtung ist...
glaube ich eigentlich gar nicht so sehr, weil
Kinder ja durchaus in der Lage sind, drei
Sprachen zu lernen auf einmal. Geht ja prin-
zipiell auch. Aber ich würde jetzt nicht sagen,
man braucht es unbedingt. Ich glaube es gibt
im Moment andere Schwierigkeiten in der
Kita. Wir haben ein großes Ressourcenpro-
blem in der Kita, auch Fachkräftemangel.
Böttger: Wien macht das aber. Wien ist ja ein
melting pot. Da haben wir eigentlich eine Si-
tuation, wie wir sie momentan auch bei uns
vorfinden mit unglaublich vielen Sprachen.
Und die Schulen berücksichtigen vor allem
die Muttersprachen, stellen dafür auch für
wenig Geld Muttersprachler ein, und vermit-
teln spielerisch, auch im kulturellen Bereich,
die Eltern werden mit eingebunden – kleine
Dinge, die zeigen, diese Sprache hat einen
Wert in der Kita oder auch in der Grundschu-
le. Und dort dient dann Englisch als Vermitt-
lungssprache. Was noch ein weiteres Thema
ist: Wir wissen mittlerweile, dass Drei- und
Vierjährige durchaus in der Lage sind, ihre
Alphabetisierung schnell voranzutreiben.
Die schreiben, auch wenn wir das nicht wol-
len. Und wenn wir sie da nicht anleiten, dann
fangen sie an, sich ihre eigenen Hypothesen
zu bilden. Das geht nur mit einem Kontinu-
um. Und wenn wir mal sehen, dass es bezo-
gen auf Sprachen für diesen Übergang zum
Teil noch keine Standards gibt, dann ist es
auch eine Sache der Kultusministerkonfe-
renz, endlich dafür zu sorgen, dass es ab dem
Vorschulbereich schon ein Kontinuum gibt,
das eventuell mit Mindeststandards arbeitet.
Wer integrieren will, der hat auch die Pflicht,
genau die Muttersprachen mitzubedenken
und dafür zu sorgen, dass die Kinder diese
auch weiterentwickeln können. Das heißt
einfach: Ich muss ein bisschen Geld in die
Hand nehmen. Rückschluss auf meinen Ein-
gangssatz: Wien macht das.
Machen wir den Sack zu – uns würde am
Ende noch interessieren, wenn Sie jetzt noch
eine Sprache lernen könnten auf Mutter-
spracheniveau, welche wäre das?
Gade: Russisch. Weil Dostojewski mein er-
klärter Lieblingsschriftsteller ist und ich liebe
es, Schriftsteller im Original zu lesen. Deswe-
gen habe ich auch relativ viel Französisch ge-
lernt, weil ich tatsächlich auch sehr gern Mo-
lière lese. Deswegen – also völlig egoistisch.
(Gelächter)
Böttger: Spanisch. Weil meine Frau in Spanien
geboren ist, als Deutsche, und die ersten
vier Jahre Spanisch gelernt hat, in Deutsch-
land dann mit fünf oder sechs Deutsch. Und
heute noch Spanisch akzentfrei spricht und
versteht.
Kratzmann: Wahrscheinlich wäre es Tür-
kisch. Aus beruflichen Gründen, weil ich
mich mit dieser Gruppe schon länger stär-
ker befasst habe. Und einiges wäre bestimmt
leichter, wenn man die Sprache sprechen
würde.
ZUR PERSON
Prof. Dr. Heiner Böttger ist Inhaber der Professur für Didaktik der englischen
Sprache und Literatur an der KU. Er arbeitet unter anderem zu neurobiologi-
schen und -didaktischen Aspekten des Spracherwerbs und begleitet aktuell
einen bayernweiten Modellversuch zu bilingualem Grundschulunterricht.
Prof. Dr. Miriam Gade war zuletzt wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehr-
stuhl für Allgemeine Psychologie der KU. Mittlerweile ist Gade Professorin für
Allgemeine Psychologie an der Medical School Berlin. Sie beschäftigt sich
unter anderem mit den Kosten und Vorteilen von früher Mehrsprachigkeit.
Prof. Dr. Jens Kratzmann ist Professor für Pädagogik mit dem Schwerpunkt
frühe Kindheit an der Fakultät für Soziale Arbeit der KU. In einem vom Bun-
desforschungsministerium geförderten Projekt untersuchte er, welche Fakto-
ren für eine gelingende mehrsprachige Entwicklung von Kindergartenkindern
bedeutsam sind.
Prof. Dr. Jens Kratzmann, Prof. Dr. Miriam Gade, Prof. Dr. Heiner Böttger