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58 I FORUM Deutsch-Englischen Kindergarten. Es hat mich immer fasziniert, wie Kinder wirklich dann mit drei phonologisch nicht notwendi- gerweise identischen Sprachen aufwachsen. Zumindest bei meinem Sohn habe ich dann auch noch erlebt, wie sich die Fähigkeit des bewussten Wechselns ausbildet. Wir sind ja schon mittendrin im Gespräch über Mehrsprachigkeit – das Wort fiel schon ganz oft. Wir haben uns in der Vorbereitung gefragt: Wer gilt denn eigentlich als mehr- sprachig? Das Wort wird vor allem für Kin- der genutzt, die mehrsprachig aufwachsen. Faktisch ist das aber falsch, oder? Gade: Es ist nicht so einfach. Es gibt eine große Diskussion darüber, wer mehrspra- chig ist. Zu Beginn der ganzen Mehrspra- chigkeitsforschung gab es die relativ einfache dichotome Kategorisierung in Mehrsprachi- ge und Monolinguale. Dann hat man aber irgendwann festgestellt, dass gerade auch im europäischen Bereich, wo man innerhalb von 200 Kilometern in ein anderes Land mit einer anderen Sprache kommen kann, sich die Unterscheidung nicht wirklich gut halten lässt. Und deswegen versucht man immer mehr, das als kontinuierliches Konstrukt zu begreifen – mit verschiedenen statistischen Methoden. Aber eine formale Definition gibt es tatsächlich nicht. Viel der Diskussion, wenn Sie einen Artikel einreichen, dreht sich immer darum: Sind Ihre Mehrsprachigen denn auch wirklich mehrsprachig? Und wie haben Sie das getestet? Deswegen ist die Tes- tung für Mehrsprachigkeit mittlerweile das aufwändigste an den Studien, es ist gar nicht so sehr die Aufgaben, sondern die Frage, wie haben wir in diesem Kontext Mehrsprachig- keit definiert. Böttger: Ich halte Monolingualismus für ei- nen absoluten Mythos. Das gibt es gar nicht. Monolingual kann niemand sein, das ist ganz einfach. Wir können ja schon ab der Geburt Gebärdensprachen. Zeichensprachen, Mimik und Gestik kommen ins Spiel, wir haben die FORUM I 59 ersten Lautsprachen. Und nachher kommen dann noch jede Menge Metasprachen dazu – Grammatik, ja die Systeme, die wir unseren Kindern fast schon unterschwellig zumuten. Man könnte untersuchen, wer ist wie mehr- sprachig geworden, wer ist wie bilingual auf- gewachsen. Und da wird es schwierig, weil wir es mit ganz individuellen Kontexten zu tun haben, mit ganz unterschiedlichen Sprach- erfahrungen und -biographien. Da lässt sich dann vieles gar nicht so untersuchen. Wie will man das auch kategorisieren? Mit welcher Definition arbeiten Sie, Herr Kratzmann? Kratzmann: Also prinzipiell würde ich mich meinen Vorrednern anschließen. Trotzdem brauchen wir eine Arbeitsdefinition, wenn wir über Mehrsprachigkeit forschen. Wir schließen uns da einer Definition von Hans Reich an, der sagt, mehrsprachiges Auf- wachsen liegt eben dann vor, wenn Kinder in alltäglichen Interaktionssituationen im- mer wieder mit verschiedenen Sprachen in Berührung kommen. Damit ist nicht bloß gemeint, englische Musik zu hören, sondern Sprache muss im Alltag eine Rolle spielen. Migranten sprechen zuhause eine Sprache und im Kindergarten kommen sie in Kon- takt mit einer anderen Sprache. Oder sie kommen schon zuhause mit zwei Sprachen in Kontakt, wenn die Eltern unterschiedliche Sprachen sprechen. Unter solchen Voraus- setzungen sprechen wir von mehrsprachi- gem Aufwachsen. Frau Gade, Sie haben schon angedeutet, dass unter anderem aufgrund der schwie- rigen Definition und Ausgangslage – wer ist eigentlich meine Gruppe, wer meine Ver- gleichsgruppe – die Forschung gar nicht so einfach ist. Können wir überhaupt auf gesi- cherte Forschungsergebnisse zurückgreifen? Gade: Ich habe gestern die letzte Übersichts- arbeit von Frau Prof. Bialystok gelesen, die eine Koryphäe im Gebiet der Mehrsprachig- keitsforschung ist. Und ja, es gibt gerade aus dem nordamerikanischen Raum sehr viele Befunde, die dafür sprechen, dass tatsächlich der frühe Kontakt mit zwei Sprachen in ei- nem sogenannten funktionellen Bilingualis- mus – also der zwingenden Notwendigkeit zweier Sprachen für den Alltag – zu Entwick- lungsvorsprüngen gerade im kindlichen Be- reich führt. Die verschwinden dann wieder in der Adoleszenz, im jungen Erwachsenen- alter. Und ob dies zu einer Verzögerung von Alterserkrankungen und Abbauprozessen führt, da ist die Forschung gerade sehr un- entschlossen. Wir wissen, dass es auf keinen Fall negative Einflüsse hat. Während man in den 60er Jahren noch sagte: Es wird eine Sprache zuhause gesprochen, es wird eine Sprache in der Schule gesprochen, weil sonst ist das Kind verwirrt. Böttger: Der Forschungsstand ist eigentlich beeindruckend, wenngleich absolut defizitär, finde ich. Gerade aus dem nordamerikani- schen Raum kommen ja die ersten Hinwei- se, dass es im Grunde schon vorgeburtlich so ist, dass Kinder Sprachen unterscheiden können und zwar aufgrund von Reaktionen. Außerdem gibt es tatsächlich diese Befunde, dass Kinder bei klarer, paralleler Bilinguali- tät nicht mehr wirklich in der Lage sind, zu übersetzen, weil sie gerade nicht wissen, in welcher Sprache sie sich befinden. Dies spricht dafür, dass alles in einem Zentrum verarbeitet wird – mit Effekten auf die dritte und vierte Sprache. Prof. Dr. Heiner Böttger Kratzmann: Ich denke, man muss auf inter- nationale Literatur zurückgreifen, wenn man sich ein gesichertes Wissen erarbeiten will. In Deutschland ist die Forschungslage für mich überhaupt nicht so sonderlich gut. Da müsste eigentlich noch einiges passieren, da brauchen wir noch einiges an Erkenntnissen. Gesichert ist immer so eine Frage – was ist gesichert, was ist nicht gesichert? Man findet auch viel Widersprüchliches in den Ergeb- nissen. Also ich glaube, zustimmen würde jeder, dass es kognitive Vorteile der Mehr- sprachigkeit gibt und dass eine Mehrspra- chigkeit grundsätzlich möglich ist und eben nicht zu Verwirrungen führt. Ich würde noch gerne auf den Punkt, was die Forschung kompliziert macht, eingehen: In Europa und Deutschland haben wir es mit unglaublich vielen Sprachen zu tun. In den USA konzen- triert sich die Aufmerksamkeit auf Hispa- nics, also bilinguale Modelle von Spanisch und Englisch. Mit anderen Sprachen gibt es nicht so viel Forschung, aus meiner Wahr- nehmung zumindest. Wir haben es aber hier mit einer großen Vielfalt an Sprachen zu tun, auch in den Kindertageseinrichtungen, mit denen ich mich befasse. Wie weit reicht die Forschung zeitlich zu- rück? Gade: Also die Idee, dass Mehrsprachig- keit verwirren könnte, stammt aus den 60er Jahren, aber die Bilingualismus-Mehrspra- chigkeitsforschung begann Ende der 90er- Jahre. Was ich noch zu Ihrem Problem mit den mehreren Sprachen sagen wollte, Herr Kratzmann: Das ist natürlich immer so die Schwierigkeit. Was ist Sprache und was ist Kultur? Es geht nicht nur um Sprache, son- dern auch um Kultur. Und das wird meiner Ansicht nach auch immer noch sehr sträflich vernachlässigt. Wir transportieren gewisse Werthaltungen, gewisse Anspruchshaltun- gen, die vielleicht in anderen Kulturen gar nicht so dominant ist. Wir reden immer von der Kognition, aber der motivationale As- pekt und auch der emotionale Aspekt, der ja gerade rund um Heimat und Sprache eine ganz große Rolle spielt, wird immer weitläu- fig außen vor gelassen – aber hat natürlich einen Einfluss. Böttger: Ich halte die Entwicklung vor 1990 für natürlich defizitär, weil sie einseitig von außen kommt. Mit der technischen Ent- wicklung von Magnetresonanztomographie hat man einen anderen Zugang auch zum Sprachzentrum bekommen und die Sicht auf das Gehirn von innen. Obwohl das zu- gleich zu einem Ruck geführt hat, dies zu- nächst einmal nicht zu akzeptieren. Aber mit der Entwicklung, mit der immer größer werdenden Möglichkeit, Dinge in Einklang zu bringen, die man beobachtet hat und die man dann eben auf dieser neuronalen biolo- gischen Ebene messen kann, kommen auch bessere Befunde. Und da kommen auch im- mer mehr Erkenntnisse – ich versuche das Wort gesichert zu vermeiden –, die in eine Richtung deuten, wenn es um Mehrsprachig- keit in der Schule geht und Mehrsprachigkeit bei Migranten. An der Zahl der Veröffentli- chungen zum Thema, auch gerade aus dem amerikanischen Bereich, kann man ersehen, dass sich viel tut. Man muss sehr vorsichtig damit umgehen. Aber dies muss auch zu ei- ner gewissen Akzeptanz führen von Interdis- ziplinarität. Kratzmann: Ich denke auch, Interdisziplina- rität ist das große Stichwort unserer Zeit auch in Bezug auf Sprachen. Gerade in der Päd- agogik ist Mehrsprachigkeit kein klassisches Thema, an dem man schon ewig forscht. Wir greifen ja sehr stark auf entwicklungspsy- chologische und auf sprachwissenschaftliche Erkenntnisse zurück und bringen das dann in Verbindung mit pädagogischen Ansätzen und überlegen, wie man darauf reagieren muss. Herr Böttger, Sie haben erwähnt, dass man speziell durch die bildgebenden Verfahren einen gewissen Einblick bekommen hat, in das, was vermeintlich im Kopf geschieht. Kann man das umschreiben: Was geschieht