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der Zeit brüchig wird und kaputtgeht. Das heißt, nach etwa 50 Jahren
müssen Sie die Karte kopieren. Der Kopist ist jedoch kein Kartograph.
Er wird sich also hüten, die gezeichnete Landmasse zu modifizieren.
Er wird aber das, was er über Ortsnamen weiß, einfließen lassen. Zum
Beispiel weiß ein Kopist im 4. Jahrhundert, dass Byzanz mittlerweile
Konstantinopel heißt. Das kann er leicht ändern. Bei jedem Kopier-
vorgang können Kopisten so nach ihrem individuellen Kenntnisstand
Ortsnamen austauschen, updaten, auslassen oder ergänzen.
Welche Konsequenz hat das für die Karte?
Während die gezeichnete Landmasse konstant bleibt, wird die Bin-
nenbeschriftung modifiziert. Die letzte Überarbeitung wurde um
435 n. Chr. datiert. Das heißt, wir haben grob 650 Jahre antike Ent-
wicklungsgeschichte, in denen die Karte regelmäßig abgeschrieben
wurde, wobei potentiell immer ein kleines bisschen verändert wurde.
Beispielsweise wurde wohl in einer Kopierstufe der römischen Kai-
serzeit eine wunderschöne Romvignette eingetragen, die 200 v. Chr.
noch keinen interessierte – da war Rom nur ein kleines Örtchen am
Tiber. Auf der anderen Seite kommt es zu Anachronismen. Gewisse
Orte werden aus Unkenntnis oder auch aus antiquarischem Interes-
se in der Karte belassen, auch wenn sie nicht mehr existieren. Die
Karte wurde außerdem mindestens einmal noch im frühen Mittel-
alter kopiert und außerdem 1200 auf der Reichenau. Wir haben also
auch einige kleinere Modifikationen von mittelalterlichen Kopisten.
Das heißt insgesamt, wir finden verschiedene Zeitstufen in ein und
demselben Kartenprodukt. Wenn wir uns die Tabula vor dem Hin-
tergrund dieses „Schichtmodells“ noch einmal neu betrachten, lassen
sich viele Merkwürdigkeiten gut erklären. Das sehen mittlerweile
auch viele anfangs skeptische Kollegen nun so.
Wie lässt sich sagen, welche Teile wann entstanden sind? Durch
Rückschlüsse von vorhandenem Wissen?
Genau. Nehmen wir als Beispiel Pompeji. Um 200 v. Chr. wird sich
im hellenistischen Alexandria niemand für eine kleine Hafenstadt
in Kampanien interessiert haben. Nach 79 n. Chr. ist Pompeji schon
nicht mehr existent. Das heißt, Pompeji muss in der späten römischen
Republik und vor 79 n. Chr. als Ortsname in einer Kopierstufe in die-
se Karte gekommen sein. Oder Konstantinopel: Das muss auf jeden
Fall nach Kaiser Konstantin eingetragen worden sein, denn vorher
hätte man Byzanz geschrieben. So kann man verschiedene Zeitstufen
herausarbeiten. Wir haben insgesamt in der Tabula 3600 Ortsnamen.
Davon können wir etwa 500 oder 600 auf diese Weise datieren. Zu-
sätzlich kann man sich aber auch Gedanken darüber machen, wann
welches Straßennetz eingetragen worden ist, welche Gebirgszüge,
welche Flüsse – also kartographische Daten nutzen. Und dann gibt
es noch interessante regionale Informationen. Zum Beispiel finden
wir in der Nähe der Krim einen merkwürdigen Eintrag: „Hier haben
Sklaven einen großen Kanal angelegt.“ Gerade hat mir ein russischer
Kollege bestätigt, dass sich diese Notiz fast wortwörtlich mit einer In-
formation bei Herodot deckt. Das heißt, derjenige, der diese Karte ge-
zeichnet hat, hat die Aufzeichnung Herodots aus dem 5. Jahrhundert
v. Chr. vielleicht gelesen und als „nice to know“-Information über-
nommen. Solche Mitteilungen finden sich an mehreren Stellen und
auch hier kann man recherchieren, woher sie kommen.
Die Forschung zur Tabula Peutingeriana hat eine 250 Jahre lange
Tradition – was macht dieses Dokument so spannend?
Die Tabula ist ein ungemein faszinierendes Dokument, weil wir kein
zweites vergleichbares aus der Antike überliefert haben. In seiner
Einzigartigkeit können wir es mit anderen berühmten Handschriften
gleichsetzen. Ich versuche das Produkt in seiner heute vorliegenden
Form zu erklären und in den geographie- und kartographiehistori-
schen Kontext der Antike einzuordnen. Bis in die 1990er Jahre hinein
hatte man in der altertumswissenschaftlichen Forschung die Vorstel-
lung, die Antike hat selbstverständlich Karten gekannt und genutzt.
Die Mediävisten hatten das große Problem, mal wieder ein Innova-
tionsdefizit im Mittelalter erklären zu müssen. Dann aber setzte sich
ein italienischer Kollege kritisch mit dem Quellenmaterial auseinan-
der und stellte fest: Wir können nicht von einer antiken Kartographie
im modernen Sinne sprechen. Das Pendel schlug um, die Auffassung
war nun: Es gab so gut wie keine Karten. Und dann kam ich mit mei-
ner mehrschichtigen Interpretation: Es gibt verschiedene Kartenty-
pen. Einerseits mathematisch-astronomische, also maßstäbliche Kar-
ten wie von Claudius Ptolemäus, die jedoch niemand nutzte, sowie
andererseits raumvisualisierende Karten. Da man nun einen neuen
methodischen Zugang ausfindig machen konnte und feststellt, dass
man damit die 250-jährige Forschungstradition auf den Kopf stellen
kann, gilt es nun, das Dokument noch einmal neu zu befragen.
Was ist Ihr Ziel?
Zu erklären und verstärkt zu differenzieren, wie genau die Genese
war und welche Impulse für Geographie, Politik und Raumwahr-
nehmungskonzepte daraus erwachsen. Das wird spannend werden.
Unser Projekt ist vielschichtig angelegt, meine Kolleginnen sind eine
Althistorikerin und eine Klassische Philologin. Wir müssen viel Lo-
kal- und Regionalgeschichte heranziehen, um herauszufinden, wa-
rum welcher Ort wann vermerkt wurde. Und auch Kunsthistoriker
sind involviert, denn es stellen sich Fragen wie: Warum ist ein Symbol
für eine Stadt so gezeichnet und nicht anders? Es braucht extrem viel
Know-How, sonst sieht diese Karte nur schön aus, aber man bekommt
sie nicht zum sprechen.
3600 Ortsnamen erfassen und hinterfragen, die Raumvorstellung
analysieren – das klingt nach einem Mammutwerk. Wann wird es
erste Ergebnisse geben?
Die DFG finanziert dieses Projekt erstmal für drei Jahre. In dieser
Zeit alle Fragen klären zu wollen, ist natürlich ambitioniert. Aber ich
glaube, dass wir die zentralen Fragen beantworten können. Auf einer
Tagung in diesem September in Wien haben wir bereits erste
Ergebnisse präsentiert. Dabei ist auch unsere Datenbank zu den
Ortsnamen online gegangen. Auf diese Weise können wir unsere
Ergebnisse dem kritischen Diskurs aussetzen.
Die frei verfügbare Datenbank ist zugänglich unter tp-online.ku.de.
Die Tabula Peutingeriana ist die mittelalterliche Kopie einer kartographi-
schen Darstellung aus der Antike, die von den Britischen Inseln über den
Mittelmeerraum und den Nahen Osten bis nach Indien und Zentralasien
reicht. Heute zählt sie zum UNESCO-Weltdokumentenerbe und liegt in
der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. Die etwa 6,80 Meter
lange und 36 Zentimeter breite Pergamentrolle ist nach ihrem ehemaligen
Besitzer, dem Augsburger Stadtschreiber und Gelehrten Konrad Peutin-
ger, benannt.
ZUR PERSON
Prof. Dr. Michael Rathmann ist an der KU seit Oktober 2012 Inhaber des Lehr-
stuhls für Alte Geschichte. Seine Forschungsschwerpunkte bilden unter anderem
die römische Verkehrsinfrastruktur und römische Verwaltungsstrukturen, die
Geographie der Antike sowie die hellenistische Geschichtsschreibung.
Jerusalem (Pfeil oben) mit dem Ölberg (MONS OLIUETI, Kreis) auf der Tabula.
Eingetragen sind ferner das Tote Meer (Pfeil unten), der Jordan sowie darüber Jericho (Pfeil rechts).