forum forschung forum forschung 2019 | Page 42

42 I FORUM FORUM I 43 Im Zentrum Italiens die markante Rom-Vignette mit dem Hafen Ostia. Links die Peters-Kirche. Herr Rathmann, wenn wir uns heute auf den Weg machen, dann stehen uns vielerlei Hilfsmittel zur Verfügung: Wegweiser, Straßen- karten, Google Maps... Wie haben das die Menschen in der Antike gemacht? Wie haben sie sich orientiert? MR: Alle Quellen, die wir für die Antike, das Mittelalter und die frü- he Neuzeit haben, sind fast kartenfrei. Das heißt: Entgegen der mo- dernen Vorstellung haben sich Menschen in vorindustriellen Zeiten ohne Karten im Raum orientiert. Wir müssen davon ausgehen, dass Orientierung über listenartige Routenverzeichnisse funktioniert hat, die nur Orte und Entfernungen enthielten – ähnlich wie ein Fahrplan der Deutschen Bahn. Wie kann ich mir das Reisen mit so einem Routenverzeichnis genau vorstellen? Der Reisende der Antike beschaffte sich solche Listen und schrieb die passende Route heraus. Das setzt keine großen Kenntnisse voraus und ist relativ preiswert. Während der Reise müssen sie sicher nach dem Weg fragen. Da man zu Fuß oder mit dem Maultier unterwegs war, die Reisegeschwindigkeit also gering war, konnte man bei jedem Reittierwechsel oder an den Raststätten vor Ort nach der passenden Route fragen. Wie unterscheidet sich das vom Mittelalter? Der Pilgerreisende im Mittelalter ist nicht anders unterwegs gewesen als der Mensch in der Antike. Allerdings kann man in der römischen Kaiserzeit von einem wesentlich höheren Verkehrsaufkommen spre- chen. Weil das römische Reich ein großer Wirtschaftsraum ist, also intensiveren Handelsaustausch ermöglicht, und weil aufgrund eines Friedens im Inneren die Menschen eher in der Lage sind zu reisen, ohne „unter die Räder zu kommen“. Zudem ermöglicht der wirt- schaftliche Wohlstand einer gewissen Oberschicht auch touristische Reisen. Wir kennen richtiggehende Touristenziele in der Antike und haben Reiseführer der Antike als Literaturgattung. Wie war es damals möglich, Karten herzustellen – ganz ohne moder- ne Technik mit Flugzeugen, Computern und Satelliten? Das ist die große Krux. Wenn Sie solch eine präjudizierte Vorstellung haben, wie die Welt auszusehen hat, dann können Sie die Karte der Welt bestenfalls partiell mit Inhalten füllen. Es gibt keine Bottom-Up- Geodäsie, dass man sozusagen aus vielen Katastern anfängt eine Welt- karte zu formen, wie wir heute eine Karte generieren würden. Von daher braucht es einen ganz erheblichen zweiten Innovationsschub. Warum haben Menschen begonnen, darüber hinaus Karten der Welt zu erstellen, den Raum also zu visualisieren? Im Grunde ist es ein philosophisches Konzept. Die Naturphilosophen im 7. und 6. vorchristlichen Jahrhundert an der heutigen türkischen Ägäisküste überlegten sich, wie die Welt im Verhältnis zum Kosmos aufgebaut ist und wie alles zusammenhängt. Pythagoras und Tha- les von Milet sind Philosophen, die versuchen, mit mathematischen Konstruktionen die Welt und das Universum durch Logik zu erfas- sen. Das heißt, wir haben eine Top-Down-Biografie: Die Menschen organisieren sich die Sterne, die Planeten und die Erde und kommen schnell zu dem Ergebnis, dass alles irgendwie kreisförmig ist. Das führt zu der Idee, dass das, was man an kosmischer Schönheit und Gleichmäßigkeit sieht, sich auch geographisch abbilden muss. Wenn das aber so ist, wie ist dann diese Erd-Kugel aufgebaut? So kommen die ersten Karten zustande. Und der wäre? Beim Alexanderzug stößt man weit in den Osten vor, zudem nimmt man verstärkt die heutige Ukraine und Nordeuropa in den Blick. Die Ägypter wollen wissen, ob sie auf einer Insel sitzen, und beauftragen einen phönizischen Kaufmann, Afrika zu umsegeln. Wir können also einen erheblichen Innovationsschub durch einen erheblichen Wis- senszuwachs im Frühhellenismus ausmachen. Dann aber braucht man noch einen Wissensspeicher, um die Informationen zu sam- meln. Das ist die Bibliothek von Alexandria als zentraler Dreh- und Umschlagplatz. Eratosthenes, der die Bibliothek von Alexandria jahr- zehntelang leitete, sammelte alle Informationen aus dem Alexander- zug, aus den ägyptischen Quellen, was über Händler aus der Nordsee bekannt war usw., und generierte daraus das Kartenbild 2.0. Er be- rechnete mit einem relativ simplen, aber innovativen und vor allem genauen mathematischen Konzept, wie groß die Kugel ist, auf der wir sitzen. Das hatte gewissen Charme, weil es leicht verständlich war, und daher ging diese Weltkarte 2.0 als „common sense geography“ in die antike Bewusstseinsbildung ein. Es gab danach auch noch weitere Innovationsschübe, aber die waren mathematisch und astronomisch so kompliziert, dass sie nur noch Spezialisten zugänglich waren und eine breitere Öffentlichkeit nicht mehr folgen konnte. Auch Konstantinopel ist an der großen Vignette gut zu erkennen. Rechts daneben der Bosporus und aufgrund der kartographischen Stauchung gleich darunter die Ägäis-Inseln sowie „südlich“ anschließend Kreta.