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Unter Wissenschaftlern ist die Anhaltende Trauerstörung als Krank-
heit inzwischen anerkannt. Ab diesem Jahr wird sie als eigene Erkran-
kung in die ICD-11, das internationale Klassifikationssystem für me-
dizinische Diagnosen, aufgenommen. „Die Anhaltende Trauer war
lange ein Störungsbild, das kaum jemand kannte“, sagt Rita Rosner.
Betroffene seien wie Depressionspatienten oder Menschen mit einer
Posttraumatischen Belastungsstörung behandelt worden. „Aber die
Interventionen haben nicht so richtig gepasst.“ Also begann die For-
schung nach Wegen zu suchen, wie man speziell Patienten mit An-
haltender Trauer behandeln könnte. Vor zehn Jahren entwickelte die
Psychologin mit Kolleginnen und Kollegen die sogenannte Kognitive
Verhaltenstherapie zur Behandlung der Anhaltenden Trauerstörung.
Einen anderen Behandlungszugang zu den Problemen des Patienten
bietet die Gegenwartsakzentuierte Therapie (Present-Centered The-
rapy). Hier bearbeiten Patient und Therapeut nur die aktuellen Pro-
bleme des Patienten. Schmerzhafte Aspekte des Todes werden weitge-
hend ausgeblendet. Rosners Behandlungsform bezieht sich hingegen
auch auf den eigentlichen Verlust und die damaligen Umstände. Sie
enthält also auch vergangenheitsbezogene Aspekte und die Patienten
sollen sich auch mit belastenden Situationen auseinandersetzen. Ziel
beider Behandlungen ist es, dass sich der Patient an die neue Lebens-
realität, also eine Welt ohne die Bezugsperson, anpasst, weniger stark
leidet und im täglichen Leben weniger eingeschränkt ist.
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In der PROGRID-Studie wird die Wirksamkeit beider Therapien, der
Gegenwartakzentuierten Therapie und der Kognitiven Verhaltensthe-
rapie zur Behandlung der Anhaltenden Trauerstörung, unabhängig
voneinander untersucht. Beide Behandlungen wurden bereits erfolg-
reich erprobt. Ziel der vergleichenden Studie ist es, zu zeigen, „ob es
zwei effektive Methoden gibt, Anhaltende Trauer zu therapieren“, er-
klärt Professor Rita Rosner.
„Gelegentlich, wenn ich im Bett liege, habe ich das Gefühl, sie zu
spüren oder ihre Stimme zu hören. Dann realisiere ich, dass ich nur
geträumt habe und falle in ein tiefes Loch.“
Die Ergebnisse der PROGRID-Studie könnten vielen Betroffenen hel-
fen. Zur Häufigkeit der Störung gibt es auseinandergehende Schät-
zungen. Laut einer niederländischen Studie tritt sie dort bei fast fünf
Prozent der Gesamtbevölkerung auf. Eine repräsentative Stichprobe
in Deutschland kam zu einer Gesamtprävalenz von 3,7 Prozent. Wie
häufig die Krankheit in einer Gesellschaft auftritt, ist auch eine Frage
der Kultur und des Umgangs mit dem Tod. Zusätzlich können auch
traumatische historische Ereignisse wie Kriege oder Genozide Ein-
fluss auf die Verbreitung der Störung in einer Gesellschaft haben. In
einer Untersuchung von 2010 zum Völkermord in Ruanda kommen
Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass unter 400 Waisen und Wit-
wen 8 Prozent der Teilnehmer an Anhaltender Trauer litten – und das
zwölf Jahre nach dem Völkermord.
„Meine gesundheitliche Verfassung hat sich in den letzten Jahren
deutlich verschlechtert. Ich leide häufig an Infekten und muss regel-
mäßig Antibiotika nehmen. Letztes Jahr hatte ich zwei Bandschei-
benvorfälle, habe aber nicht die Kraft, mich für Sport oder Bewe-
gung aufzuraffen oder mein Essverhalten zu ändern.“
Eine Anhaltende Trauerstörung kann durch die Umstände des Todes,
die Nähe zur verstorbenen Person (Partner, Kind) wahrscheinlicher
werden. Kam der Verlust sehr unerwartet oder war das Ableben der
Person für den Patienten besonders traumatisch – zum Beispiel durch
einen schweren Autounfall –, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit für
die Entwicklung einer Anhaltenden Trauerstörung. Auch wenn der
Betroffene das Gefühl hat, sich nicht angemessen von der Person
verabschiedet zu haben, kann dies ein Thema für die Therapie sein.
Rosner und ihre Co-Autoren schildern in ihrem Manual das Beispiel
einer Frau, deren Mann an einem Herzinfarkt starb, während sie mit
einer Freundin im Kino war. Die Gedanken der Ehefrau kreisen seit
dem Tod des Mannes um diese Situation. Sie fühlt sich, als habe sie
ihren Mann im Stich gelassen.
Menschen mit psychischen Erkrankungen leiden um ein Vielfaches
häufiger an Anhaltender Trauer als gesunde Menschen. In einer Stu-
die von 2011 wiesen Patienten mit einer schweren Depression eine
Prävalenz von 24, Patienten mit einer bipolaren Störung eine Präva-
lenz von 25 Prozent auf.
„Meine Frau war sehr gesellig und hatte viele gute Freunde. Wir ha-
ben mit ihnen viel unternommen. Nach ihrem Tod habe ich mich von
diesen Freunden zurückgezogen. Im Grunde lebe ich seit fünf Jahren
sehr isoliert.“
Von einer Art „Bindungsstörung“ spricht Dr. Hannah Comteße, die
in der psychotherapeutischen Hochschulambulanz in Ingolstadt die
PROGRID-Studie mitbetreut. Es gibt zum Beispiel Patienten, die
Stunden am Grab des Toten verbringen und mit ihm reden. „Die
Bindung zum Verstorbenen ändert sich nicht“, sagt Comteße. Dabei
sei gerade eine Veränderung der Beziehung nötig, um weiterleben
zu können. „Es geht nicht darum, die Person zu vergessen“, erklärt
die Psychologin. „Auch nicht darum, dem Patienten schöne Erinne-
rungen zu nehmen.“ Es gehe allein darum, das Leben der Patienten
wieder lebenswert zu machen und alltägliche Einschränkungen zu
minimieren oder ganz aufzulösen.
„Ab und zu treffe ich mich mit meinem Bruder und seiner Familie.
Aber er hat seine Frau und ich habe meinen Mann nicht mehr. Das
macht mich so traurig, dass ich den Kontakt vermeide.“
*Alle kursiven Zitate stammen aus einem Beispiel zur Trauerreaktion aus dem Buch
„Anhaltende Trauerstörung: Manuale für die Einzel- und Gruppentherapie“ von Rita Rosner et al., Hogrefe (2015)
ZUR PERSON
Prof. Dr. Rita Rosner ist seit 2011 Inhaberin des Lehrstuhls für Klinische und
Biologische Psychologie an der KU. In aktuellen BMBF- und DFG-geförderten
Projekten beschäftigt sich die Psychologische Psychotherapeutin mit der
Behandlung Posttraumatischer Belastungsstörungen bei Kindern und Jugend-
lichen nach sexuellem Missbrauch, mit migrationsspezifischen Aspekten in der
Versorgung misshandelter Kinder und Jugendlicher und mit der Behandlung
der Anhaltenden Trauerstörung im Erwachsenenalter. Rosner war von 2006 bis
2008 Präsidentin der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie
(DeGPT), und von 2009-2015 im Vorstand der European Society for Traumatic
Stress Studies (ESTSS). Sie ist Mitherausgeberin des European Journal of
Psychotraumatology (EJPT).
Bei einer Auftaktveranstaltung an der KU wurden die beteiligten Therapeutinnen und Therapeuten in den Behandlungsverfahren geschult.