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Aggressionen an der Ampel
Die Ampel wird grün, doch das Auto vor uns bewegt sich keinen Zentimeter. Kein Grund zur Aufregung?
Für die allermeisten schon! Ob und wie aggressiv wir reagieren, hängt allerdings von verschiedenen Faktoren ab.
Die Eichstätter Forscher PD Dr. Knut Petzold und Prof. Dr. Stefanie Eifler haben mit Studierenden das „Hup-
Experiment“ durchgeführt und bemerkenswerte Erkenntnisse über unser Aggressionsverhalten, aber auch die
Vorhersagekraft von Befragungen für ein solches Verhalten gesammelt.
Soziale Normen regeln unser Verhalten,
sie markieren, wie zu handeln ist und wie
nicht. Diese Normen einzuhalten und ge-
genüber anderen durchzusetzen, prägt das
gesellschaftliche Zusammenleben. Und das
betrifft auch vermeintlich simple und recht-
lich festgeschriebene Normen wie jene, bei
einer grünen Ampel zu fahren. Geschieht
dies nicht, versuchen wir in der Regel diese
Normverletzung zu sanktionieren. Auf die-
sem äußerst menschlichen Verhalten beruht
das sogenannte „Hup-Experiment“.
Im Rahmen des zweisemestrigen Forschungs-
praktikums in den Bachelorstudiengängen
Soziologie und Politik & Gesellschaft griffen
Stefanie Eifler und Knut Petzold auf dieses
klassische Feldexperiment zurück, das erst-
mals Ende der 1960er Jahre durchgeführt
wurde. „Das Setting sieht so aus, dass wir
systematisch mit unserem Experimental-
fahrzeug – wir nennen es Frustrator – andere
Fahrzeuge – die Aggressoren – an der Wei-
terfahrt hindern, wenn die Ampel auf Grün
schaltet“, erklärt Petzold. Anschließend wird
die Normdurchsetzung anhand der Tatsache,
ob und wie schnell der Aggressor hupt oder
Lichthupe gibt, gemessen. Brauche eine Per-
son länger, um zu hupen, oder reagiere gar
nicht, sei dies ein Hinweis, dass bestimmte
Faktoren die Person bei der Durchsetzung
der Norm hemmen. Insbesondere der Status-
Effekt spielt dabei eine große Rolle. Vorgän-
gerstudien konnten zeigen, dass ein hoher
Status des Frustrators – also des Fahrzeugs,
das die Weiterfahrt blockiert – zu späteren
und selteneren Reaktionen führt. Hoch- oder
Niedrigstatus bedeutete im Ingolstädter Fall:
Audi Q7 oder VW Golf. Doch die Forscher-
gruppe der KU ergänzte das Experiment um
eine weitere Variation. So standen je ein Q7
und ein Golf mit auswärtigem und einhei-
mischem Kennzeichen bereit, um zu prüfen,
welchen Einfluss die Zugehörigkeit des Frus-
trators zur „In-Group“ auf das Aggressions-
verhalten hat.
Realisiert wurde das Experiment an einer In-
golstädter Kreuzung mit insgesamt 362 blo-
ckierten Pkws. Für die studentischen For-
scher und ihre Betreuer eine Großaufgabe,
wie Petzold berichtet: „Es gab in diesem
Feldexperiment jede Menge Fragen zu klä-
ren. Die erste methodische Herausforderung
war es, überhaupt eine geeignete Ampel zu
finden; die zweite, vier Autos, die abgesehen
von Status und Kennzeichen möglichst ähn-
lich sind.“ Fünf Studierende waren fünf Tage
lang als Experimentatoren im Einsatz: Einer
saß am Steuer des Frustrators, ein weiterer
auf dem Beifahrersitz mit Stoppuhr, um zu
messen, wie lange es dauerte, bis der Aggres-
sor reagierte. Ein dritter Student beobachtete
von der Rückbank des Frustrators zentrale
Merkmale des Aggressors wie Geschlecht
und Alter. Zwei weitere Personen beobach-
teten die Szenen mit Ferngläsern von einem
benachbarten Parkplatz, um Merkmale wie
Status, Herkunft und Alter des Aggressor-
Fahrzeugs zu dokumentieren.
Viel Aufwand, der jedoch mit spannenden
Ergebnissen belohnt wurde: Gut 91 Prozent
der 362 blockierten Autofahrer haben mit
Hupe oder Lichthupe auf den Frustrator rea-
giert – das bedeutet aber auch: Fast 9 Prozent
der Autofahrer harrten die 30-sekündige
Grünphase aus, ohne den Vordermann für
seinen Normbruch zu sanktionieren.
Wer hupte, der tat das in den meisten Fällen
in den ersten zehn Sekunden. Einen deutli-
chen Effekt auf die Schnelligkeit der Reaktion
hatte dabei – wie in den weltweiten Vorgän-
gerstudien – der Status des Frustrators: „Der
Q7 wurde im Schnitt ungefähr 1,5 Sekunden
später angehupt als der Golf “, berichtet Knut
Petzold. „Das spricht dafür, dass Status unser
Zusammenleben in gewissen Teilen mitregelt
beziehungsweise Status-Signale – es könnte
ja auch ein Geringverdiener im Q7 sitzen,
der das Auto für seinen Chef fährt.“
Der Status-Effekt zeigte sich auch in einer
weiteren Form: Fahrer von Oberklasse-Wa-
gen reagierten als Aggressoren schneller als
Fahrer von Kleinwagen. Auch andere Stu-
dien stellten bereits fest, dass statushöhere
Fahrzeuge schneller hupen und aggressiver
auftreten. Was die Eichstätter Studie aber zu-
sätzlich fand, ist, dass sie, wenn ein ebenfalls
statushohes Auto vor ihnen steht, langsamer
reagieren als Klein- oder Mittelklassewagen.
Generell wird ein statushoher Frustrator
später angehupt – aber bei Klein- und Mit-
telklassewagen liegt diese Verzögerung im
Schnitt bei 1,2 Sekunden, bei statushohen
Aggressoren bei knapp drei Sekunden. „Man
könnte das so interpretieren, dass die Fahrer
der großen Autos statusbewusster und in-
nerhalb ihrer Statusgruppe toleranter sind“,
erklärt Petzold.
Dass Männer die aggressiveren Autofahrer
sind, findet sich in der KU-Studie nur an-
deutungsweise gestützt: Frauen reagierten
im Schnitt nur etwa eine Sekunde langsa-
mer als Männer. Deutlichere Unterschie-
de ergaben sich dagegen aus dem Alter des
Aggressors: So reagierte die Gruppe der
Über-65-Jährigen im Vergleich zur jüngsten
Gruppe der Unter-25-Jährigen im Schnitt
etwa zwei Sekunden früher. Überrascht hat
die Forscher, dass sich die Reaktion des Ag-
gressors mit jedem weiteren wartenden Auto
hinter ihm um eine Sekunde verlangsamte.
Statt wachsendem Druck scheint hier ein
anderer Effekt zum Tragen zu kommen: „Ich
interpretiere das als Koorientierung – wenn
da mehrere stehen, wartet man und schaut,
was machen die anderen – dadurch kommt
es zu einer Verzögerung“, erläutert Soziologe
Petzold.
Keinerlei Auswirkungen im Feldexperiment
zeigte dagegen die zweite vom KU-Forscher-
team eingeführte Variation: „Die Probanden
haben nicht danach unterschieden, ob ein In-
golstädter oder ein Auswärtiger der Frustrator
war. Das Kennzeichen ist ein fast reiner Null-
effekt.“ Dass sich die Variable In-Group/Out-
Group dennoch als wertvoll erwies, liegt daran,
dass es das Forscherteam nicht beim Feldexpe-
riment beließ. Zweiter Teil der Untersuchung
war eine schriftliche Befragung, denn eigent-
liches Ziel der Studie war es, die Validität so-
genannter Vignetten-Experimente zu prüfen.
„Auch wenn es hier um Autos geht, ist da-
mit natürlich nicht die Autobahn-Vignette
gemeint“, sagt Petzold und schmunzelt. Als
Vignetten bezeichnet man in der empiri-
schen Sozialforschung Beschreibungen von
hypothetischen Situationen, Personen und
Objekten, die in einen Fragebogen integriert
werden. Seit gut 50 Jahren werden sie ein-
gesetzt, um möglichst realistische Einschät-
zungen der präsentierten Szenarien zu evo-
zieren. Themen sind zum Beispiel sexuelle
Attraktivität, Umzugsentscheidungen oder
Straftaten.
In der Eichstätter Studie gingen analog zum
2x2-Feldexperiment Fragebögen mit vier
verschiedenen Vignetten an 2000 Personen
in Ingolstadt – zurück kamen 465 Bögen. Die
Befragten sollten angeben, wie und inner-
halb welcher Zeitspanne sie in der Ampelsi-
tuation reagieren würden. Anschließend ver-
glichen die Forscher die über das Vignetten-
Experiment erhobenen Angaben mit dem
beobachteten Verhalten im Feldexperiment.
Um die Vergleichbarkeit der Teilnehmer zu
gewährleisten, wurde ein Matching-Verfah-
ren angewendet. „Die Unterschiede waren
immens“, erzählt Knut Petzold: „Während
wir im Feldexperiment einen eindeutigen
Status-Effekt haben und keinen In-Group-
Effekt, haben wir im Vignetten-Experiment
keinen Status-Effekt und einen ganz klaren
In-Group-Effekt.“ Die gegenläufigen Effekte
bestätigten Eiflers und Petzolds Hypothese
zu Vignetten-Experimenten. Die Soziolo-
gen beschäftigen sich seit längerem mit der
Evaluation dieser Methode. Denn Vignetten
werden zwar häufig eingesetzt, um von ge-
äußerten Verhaltensabsichten auf Verhalten
zu schließen, Validierungsstudien, die diesen
Zusammenhang auf Korrektheit prüfen, sind
jedoch selten. Und: Einige stellen fest, dass
Vignetten sehr gut funktionieren, andere,
dass sie überhaupt nicht funktionieren. Letz-
teres gilt auch für das Ampel-Experiment.
„Wir glauben mittlerweile, ob eine Vignette
funktioniert oder nicht, hängt zentral damit
zusammen, ob die Situation, die beschrieben
wird, normativ aufgeladen ist oder nicht“,
sagt Petzold.
So funktionierten Vignetten beispielsweise
gut bei Umzugsentscheidungen, denn hier
fände sowohl in der Vignette als auch in der
Realität eine bewusste Reflexion statt. „Beim
Hup-Experiment aber steuert die Norm das
Verhalten. Im realen Straßenverkehr handelt
man einfach, in der Vignette aber fangen die
Leute an, bewusst zu reflektieren“, erklärt Pet-
zold. Auch dabei spielten Normen eine Rolle,
allerdings in anderer Form: „Wahrscheinlich
ist es so, dass Vignetten vor allem dazu tau-
gen, Normvorstellungen zu messen – also
nicht das vermutlich realisierte, sondern das
ideale Verhalten.“ Im Hup-Experiment bei-
spielsweise versuchten die Befragten offen-
bar, sich nicht statusorientiert zu zeigen.
Dafür ließen sie sich von der Herkunft des
Frustrators beeinflussen: „Locals“ wurden
im Selbstbericht schneller und häufiger
sanktioniert. Ein Einheimischer müsste sich
auskennen, hupen erscheint da in Ordnung –
dagegen scheint es den Befragten sozial er-
wünscht, mit auswärtigen Autofahrern mehr
Nachsicht zu üben.
Das Hup-Experiment ist für Petzold und Eif-
ler mit diesen Erkenntnissen erst einmal ab-
gehakt – nicht aber die Vignetten-Forschung.
„Vignetten funktionieren vermutlich vor al-
lem in nicht-normrelevanten Situationen, in
denen auch in der Realität abgewogen wird
– das werden wir weiter erforschen, ebenso
wie andere Modes, also die Frage, ob es einen
Unterschied macht, wenn man eine Vignette
als Text, Foto oder Video präsentiert.“
ZUR PERSON
Prof. Dr. Stefanie Eifler ist seit 2013 Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie und
Empirische Sozialforschung. Einen ihrer Arbeitsschwerpunkte bildet neben der
Beschäftigung mit den Methoden der empirischen Forschung die Kriminalsozio-
logie. Sie forschte unter anderem zu den Themen „Gelegenheitsstrukturen“ und
„Alltagskriminalität“.
Prof. Dr. Stefanie Eifler
PD Dr. Knut Petzold
PD Dr. Knut Petzold habilitierte sich an der GGF der KU Eichstätt-Ingolstadt
im Fach Soziologie. Er ist gegenwärtig am Lehrstuhl für „Soziologie/Stadt
und Region“ an der Ruhr-Universität Bochum tätig und Privatdozent an der
Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der KU.