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22 I SCHWERPUNKT EMOTIONEN SCHWERPUNKT EMOTIONEN I 23 Aggressionen an der Ampel Die Ampel wird grün, doch das Auto vor uns bewegt sich keinen Zentimeter. Kein Grund zur Aufregung? Für die allermeisten schon! Ob und wie aggressiv wir reagieren, hängt allerdings von verschiedenen Faktoren ab. Die Eichstätter Forscher PD Dr. Knut Petzold und Prof. Dr. Stefanie Eifler haben mit Studierenden das „Hup- Experiment“ durchgeführt und bemerkenswerte Erkenntnisse über unser Aggressionsverhalten, aber auch die Vorhersagekraft von Befragungen für ein solches Verhalten gesammelt. Soziale Normen regeln unser Verhalten, sie markieren, wie zu handeln ist und wie nicht. Diese Normen einzuhalten und ge- genüber anderen durchzusetzen, prägt das gesellschaftliche Zusammenleben. Und das betrifft auch vermeintlich simple und recht- lich festgeschriebene Normen wie jene, bei einer grünen Ampel zu fahren. Geschieht dies nicht, versuchen wir in der Regel diese Normverletzung zu sanktionieren. Auf die- sem äußerst menschlichen Verhalten beruht das sogenannte „Hup-Experiment“. Im Rahmen des zweisemestrigen Forschungs- praktikums in den Bachelorstudiengängen Soziologie und Politik & Gesellschaft griffen Stefanie Eifler und Knut Petzold auf dieses klassische Feldexperiment zurück, das erst- mals Ende der 1960er Jahre durchgeführt wurde. „Das Setting sieht so aus, dass wir systematisch mit unserem Experimental- fahrzeug – wir nennen es Frustrator – andere Fahrzeuge – die Aggressoren – an der Wei- terfahrt hindern, wenn die Ampel auf Grün schaltet“, erklärt Petzold. Anschließend wird die Normdurchsetzung anhand der Tatsache, ob und wie schnell der Aggressor hupt oder Lichthupe gibt, gemessen. Brauche eine Per- son länger, um zu hupen, oder reagiere gar nicht, sei dies ein Hinweis, dass bestimmte Faktoren die Person bei der Durchsetzung der Norm hemmen. Insbesondere der Status- Effekt spielt dabei eine große Rolle. Vorgän- gerstudien konnten zeigen, dass ein hoher Status des Frustrators – also des Fahrzeugs, das die Weiterfahrt blockiert – zu späteren und selteneren Reaktionen führt. Hoch- oder Niedrigstatus bedeutete im Ingolstädter Fall: Audi Q7 oder VW Golf. Doch die Forscher- gruppe der KU ergänzte das Experiment um eine weitere Variation. So standen je ein Q7 und ein Golf mit auswärtigem und einhei- mischem Kennzeichen bereit, um zu prüfen, welchen Einfluss die Zugehörigkeit des Frus- trators zur „In-Group“ auf das Aggressions- verhalten hat. Realisiert wurde das Experiment an einer In- golstädter Kreuzung mit insgesamt 362 blo- ckierten Pkws. Für die studentischen For- scher und ihre Betreuer eine Großaufgabe, wie Petzold berichtet: „Es gab in diesem Feldexperiment jede Menge Fragen zu klä- ren. Die erste methodische Herausforderung war es, überhaupt eine geeignete Ampel zu finden; die zweite, vier Autos, die abgesehen von Status und Kennzeichen möglichst ähn- lich sind.“ Fünf Studierende waren fünf Tage lang als Experimentatoren im Einsatz: Einer saß am Steuer des Frustrators, ein weiterer auf dem Beifahrersitz mit Stoppuhr, um zu messen, wie lange es dauerte, bis der Aggres- sor reagierte. Ein dritter Student beobachtete von der Rückbank des Frustrators zentrale Merkmale des Aggressors wie Geschlecht und Alter. Zwei weitere Personen beobach- teten die Szenen mit Ferngläsern von einem benachbarten Parkplatz, um Merkmale wie Status, Herkunft und Alter des Aggressor- Fahrzeugs zu dokumentieren. Viel Aufwand, der jedoch mit spannenden Ergebnissen belohnt wurde: Gut 91 Prozent der 362 blockierten Autofahrer haben mit Hupe oder Lichthupe auf den Frustrator rea- giert – das bedeutet aber auch: Fast 9 Prozent der Autofahrer harrten die 30-sekündige Grünphase aus, ohne den Vordermann für seinen Normbruch zu sanktionieren. Wer hupte, der tat das in den meisten Fällen in den ersten zehn Sekunden. Einen deutli- chen Effekt auf die Schnelligkeit der Reaktion hatte dabei – wie in den weltweiten Vorgän- gerstudien – der Status des Frustrators: „Der Q7 wurde im Schnitt ungefähr 1,5 Sekunden später angehupt als der Golf “, berichtet Knut Petzold. „Das spricht dafür, dass Status unser Zusammenleben in gewissen Teilen mitregelt beziehungsweise Status-Signale – es könnte ja auch ein Geringverdiener im Q7 sitzen, der das Auto für seinen Chef fährt.“ Der Status-Effekt zeigte sich auch in einer weiteren Form: Fahrer von Oberklasse-Wa- gen reagierten als Aggressoren schneller als Fahrer von Kleinwagen. Auch andere Stu- dien stellten bereits fest, dass statushöhere Fahrzeuge schneller hupen und aggressiver auftreten. Was die Eichstätter Studie aber zu- sätzlich fand, ist, dass sie, wenn ein ebenfalls statushohes Auto vor ihnen steht, langsamer reagieren als Klein- oder Mittelklassewagen. Generell wird ein statushoher Frustrator später angehupt – aber bei Klein- und Mit- telklassewagen liegt diese Verzögerung im Schnitt bei 1,2 Sekunden, bei statushohen Aggressoren bei knapp drei Sekunden. „Man könnte das so interpretieren, dass die Fahrer der großen Autos statusbewusster und in- nerhalb ihrer Statusgruppe toleranter sind“, erklärt Petzold. Dass Männer die aggressiveren Autofahrer sind, findet sich in der KU-Studie nur an- deutungsweise gestützt: Frauen reagierten im Schnitt nur etwa eine Sekunde langsa- mer als Männer. Deutlichere Unterschie- de ergaben sich dagegen aus dem Alter des Aggressors: So reagierte die Gruppe der Über-65-Jährigen im Vergleich zur jüngsten Gruppe der Unter-25-Jährigen im Schnitt etwa zwei Sekunden früher. Überrascht hat die Forscher, dass sich die Reaktion des Ag- gressors mit jedem weiteren wartenden Auto hinter ihm um eine Sekunde verlangsamte. Statt wachsendem Druck scheint hier ein anderer Effekt zum Tragen zu kommen: „Ich interpretiere das als Koorientierung – wenn da mehrere stehen, wartet man und schaut, was machen die anderen – dadurch kommt es zu einer Verzögerung“, erläutert Soziologe Petzold. Keinerlei Auswirkungen im Feldexperiment zeigte dagegen die zweite vom KU-Forscher- team eingeführte Variation: „Die Probanden haben nicht danach unterschieden, ob ein In- golstädter oder ein Auswärtiger der Frustrator war. Das Kennzeichen ist ein fast reiner Null- effekt.“ Dass sich die Variable In-Group/Out- Group dennoch als wertvoll erwies, liegt daran, dass es das Forscherteam nicht beim Feldexpe- riment beließ. Zweiter Teil der Untersuchung war eine schriftliche Befragung, denn eigent- liches Ziel der Studie war es, die Validität so- genannter Vignetten-Experimente zu prüfen. „Auch wenn es hier um Autos geht, ist da- mit natürlich nicht die Autobahn-Vignette gemeint“, sagt Petzold und schmunzelt. Als Vignetten bezeichnet man in der empiri- schen Sozialforschung Beschreibungen von hypothetischen Situationen, Personen und Objekten, die in einen Fragebogen integriert werden. Seit gut 50 Jahren werden sie ein- gesetzt, um möglichst realistische Einschät- zungen der präsentierten Szenarien zu evo- zieren. Themen sind zum Beispiel sexuelle Attraktivität, Umzugsentscheidungen oder Straftaten. In der Eichstätter Studie gingen analog zum 2x2-Feldexperiment Fragebögen mit vier verschiedenen Vignetten an 2000 Personen in Ingolstadt – zurück kamen 465 Bögen. Die Befragten sollten angeben, wie und inner- halb welcher Zeitspanne sie in der Ampelsi- tuation reagieren würden. Anschließend ver- glichen die Forscher die über das Vignetten- Experiment erhobenen Angaben mit dem beobachteten Verhalten im Feldexperiment. Um die Vergleichbarkeit der Teilnehmer zu gewährleisten, wurde ein Matching-Verfah- ren angewendet. „Die Unterschiede waren immens“, erzählt Knut Petzold: „Während wir im Feldexperiment einen eindeutigen Status-Effekt haben und keinen In-Group- Effekt, haben wir im Vignetten-Experiment keinen Status-Effekt und einen ganz klaren In-Group-Effekt.“ Die gegenläufigen Effekte bestätigten Eiflers und Petzolds Hypothese zu Vignetten-Experimenten. Die Soziolo- gen beschäftigen sich seit längerem mit der Evaluation dieser Methode. Denn Vignetten werden zwar häufig eingesetzt, um von ge- äußerten Verhaltensabsichten auf Verhalten zu schließen, Validierungsstudien, die diesen Zusammenhang auf Korrektheit prüfen, sind jedoch selten. Und: Einige stellen fest, dass Vignetten sehr gut funktionieren, andere, dass sie überhaupt nicht funktionieren. Letz- teres gilt auch für das Ampel-Experiment. „Wir glauben mittlerweile, ob eine Vignette funktioniert oder nicht, hängt zentral damit zusammen, ob die Situation, die beschrieben wird, normativ aufgeladen ist oder nicht“, sagt Petzold. So funktionierten Vignetten beispielsweise gut bei Umzugsentscheidungen, denn hier fände sowohl in der Vignette als auch in der Realität eine bewusste Reflexion statt. „Beim Hup-Experiment aber steuert die Norm das Verhalten. Im realen Straßenverkehr handelt man einfach, in der Vignette aber fangen die Leute an, bewusst zu reflektieren“, erklärt Pet- zold. Auch dabei spielten Normen eine Rolle, allerdings in anderer Form: „Wahrscheinlich ist es so, dass Vignetten vor allem dazu tau- gen, Normvorstellungen zu messen – also nicht das vermutlich realisierte, sondern das ideale Verhalten.“ Im Hup-Experiment bei- spielsweise versuchten die Befragten offen- bar, sich nicht statusorientiert zu zeigen. Dafür ließen sie sich von der Herkunft des Frustrators beeinflussen: „Locals“ wurden im Selbstbericht schneller und häufiger sanktioniert. Ein Einheimischer müsste sich auskennen, hupen erscheint da in Ordnung – dagegen scheint es den Befragten sozial er- wünscht, mit auswärtigen Autofahrern mehr Nachsicht zu üben. Das Hup-Experiment ist für Petzold und Eif- ler mit diesen Erkenntnissen erst einmal ab- gehakt – nicht aber die Vignetten-Forschung. „Vignetten funktionieren vermutlich vor al- lem in nicht-normrelevanten Situationen, in denen auch in der Realität abgewogen wird – das werden wir weiter erforschen, ebenso wie andere Modes, also die Frage, ob es einen Unterschied macht, wenn man eine Vignette als Text, Foto oder Video präsentiert.“ ZUR PERSON Prof. Dr. Stefanie Eifler ist seit 2013 Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie und Empirische Sozialforschung. Einen ihrer Arbeitsschwerpunkte bildet neben der Beschäftigung mit den Methoden der empirischen Forschung die Kriminalsozio- logie. Sie forschte unter anderem zu den Themen „Gelegenheitsstrukturen“ und „Alltagskriminalität“. Prof. Dr. Stefanie Eifler PD Dr. Knut Petzold PD Dr. Knut Petzold habilitierte sich an der GGF der KU Eichstätt-Ingolstadt im Fach Soziologie. Er ist gegenwärtig am Lehrstuhl für „Soziologie/Stadt und Region“ an der Ruhr-Universität Bochum tätig und Privatdozent an der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der KU.