18 I SCHWERPUNKT EMOTIONEN
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ZUR PERSON
Prof. Dr. Robert Schmidt ist seit 2014 Inhaber der Professur für Prozess-
orientierte Soziologie an der KU. Zu seinen Forschungsthemen gehören unter
anderem zahlen- und datenbasierte Praktiken des Bewertens, Verortungen
und neue politische Protestkulturen, interpretative Verfahren der Videoanalyse,
soziologische Ethnografie sowie die Affektivität des Sozialen (also die Rolle von
Stimmungen und Atmosphären in sozialen Kontexten).
Dicke Luft und gute Stimmung
Als Sozialwissenschaftler interessieren sich Soziologinnen und Soziologen auch für Prozesse und Phänomene
im gesellschaftlichen Miteinander, die auf den ersten Blick ziemlich selbstverständlich erscheinen, wie etwa den
Arbeitsalltag der Menschen oder das Zusammenleben in der Stadt.
Dass im sozialen Umgang auch Emotionen
eine große Rolle spielen und sich ihre Wir-
kung nicht auf einzelne Personen beschränkt,
ist unumstritten: So war jüngst in der öffent-
lichen Wahrnehmung die Stimmung auf der
Straße geprägt von Wutbürgern, in sozialen
Medien kochen die Emotionen bei Shit-
storms hoch und es ist die Rede von einer
Zeit des „Postfaktischen“, in der das Gefühlte
gegenüber dem „Wirklichen“ betont wird.
Umso erstaunlicher wirkt es, dass die Sozio-
logie den Emotionen als Forschungsgegen-
stand in der Vergangenheit eher zurückhal-
tend zu begegnen schien. In der Fachliteratur
liest man von einem „blinden Fleck“ und „Be-
rührungsängsten“ der Soziologie; als einer
der renommiertesten Vertreter seines Faches
bezeichnete Niklas Luhmann diesen The-
menbereich Mitte der 1980er Jahre schlicht
als „Forschungslücke“. Zur Verwirrung trage
bei, so der ehemalige Leiter der Sozialpsych-
iatrischen Klinik Bern, Luc Ciompi, dass es
nicht nur methodische Schwierigkeiten bei
der Erfassung von Gefühlen gebe, sondern
eine adäquate wissenschaftliche Sprache und
ein Verständnis für das Wesen von Gefühls-
zuständen und ihrer Wirkung auf Denken
und Verhalten fehle.
Zwar hat sich im Lauf der Zeit innerhalb
des Faches eine Emotionssoziologie entwi-
ckelt, die mit verschiedenen Studien zeigte,
dass Emotionen sowohl soziale Bindungen
herstellen als auch zu Konflikt und Desin-
tegration führen. Jedoch ordnen diese For-
schungsansätze Gefühle lediglich der einzel-
nen Person zu, die diese individuell erlebt.
Subtileren Phänomenen, wie etwa die Stim-
mung in einer Firma oder einer Schulklasse,
kann man sich damit wissenschaftlich nur
schwer nähern. Zudem argumentieren die
meisten Theorien, dass Menschen Emotio-
nen wie Freude oder Zorn nur für einen kur-
zen Zeitraum empfinden – als Reaktion auf
ein bestimmtes Ereignis oder eine Situation.
Evolutionstheoretisch erklärt man dies als
Funktion, die den Organismus auf relevante
Ereignisse in der Umwelt hinweist und ihn
auf eine Reaktion vorbereitet.
Ausgeklammert werden dabei Gefühlsphä-
nomene, die einen hintergründigen und
kontinuierlichen Charakter haben – wie etwa
Stressempfinden, Hochgefühle oder Nie-
dergeschlagenheit. Diese zählt man in der
sozial- und kulturwissenschaftlichen Litera-
tur zu den Affekten. Dabei lehnt man sich
begrifflich an das Englische an, wo „affect“
vor allem für dauerhafte Phänomene genutzt
wird, während das deutsche Wort „Affekt“
im Alltagsgebrauch meist als Synonym für
Emotionen dient. „Soziologie reflektiert
Gesellschaft. Dabei sollten Affekte nicht aus-
geklammert werden oder ausschließlich auf
Basis anderer Wissenschaften thematisiert
werden“, erklärt Prof. Dr. Robert Schmidt,
der an der KU die Professur für Prozessori-
entierte Soziologie innehat. Denn mangels
sozial- und kulturwissenschaftlicher Voka-
bulare wurden bislang auch in Werken mit
soziologischem Hintergrund meist fach-
fremde Konzepte aus der Psychologie oder
der Philosophie importiert, ohne die teils
kontroversen Debatten in den Herkunftsdis-
ziplinen zu reflektieren.
Entsprechend seiner Schwerpunktsetzung
geht es Schmidt auch bezogen auf Affekte
um den Prozess, das Werden und die fort-
laufende Veränderung des Sozialen. Men-
schen stehen in dynamischen Beziehungen
zueinander, die subtil von Medien, Tech-
nologie oder bewusst gestalteten Räumen
geprägt sind – sei es am Arbeitsplatz, der
Familie oder beim Einkauf. So versucht etwa
die Werbebranche, Lebensformen und Le-
bensgefühle durch Kampagnen und Gestal-
tung im öffentlichen Raum konsumierbar zu
machen. Unternehmen und Organisationen
wiederum wollen vermehrt auf das Gefühls-
leben ihrer Belegschaft und vermeintliche
atmosphärische Bedürfnisse eingehen. Sub-
tiler motiviert ist außerdem das sogenannte
„nudging“ (engl. nugde = Stups/Schups), mit
dem man die Entscheidungen von Menschen
ohne erhobenen Zeigefinger oder ökono-
Basil Wiesse ist Mitarbeiter der Professur für Prozessorientierte Soziologie.
Seine Arbeitsschwerpunkte bilden unter anderem Soziologische Theorie
sowie Affektsoziologie. Er promoviert zum Thema „Situation und Affekt“.
Prof. Dr. Robert Schmidt
mische Anreize in eine bestimmte Richtung
lenkt: Man stellt beispielsweise die Drucker
in einer Firma so ein, dass diese automatisch
doppelseitig drucken; wer einseitig drucken
will, hat zwar noch die Wahl, muss sich aber
dafür bewusst entscheiden. Grundüberle-
gung hierbei ist, dass Menschen auch von
Werten und emotionalen Faktoren – wie
etwa Bequemlichkeit oder Verdrängung – zu
Handlungen verleitet werden. Auch Regie-
rungen nutzen diese subtile Form der Ein-
mischung, etwa im Gesundheitsbereich: In
Österreich sind die Bürger beispielsweise au-
tomatisch Organspender, wenn sie nicht ex-
plizit widersprechen; in Deutschland gilt die
umgekehrte Regelung. Die Grenzen zwischen
Bevormundung und Fürsorge gestalten sich
beim Nudging fließend und werden kontro-
vers diskutiert. „Mit der Erforschung von
Affekten bietet sich auch die Möglichkeit, die
bewusste Gestaltung von Stimmungen und
Atmosphären zu reflektieren und sich bei
Bedarf davon zu emanzipieren“, betont Basil
Wiesse, der bei Professor Schmidt zur theo-
retischen Grundlegung von Affektsoziologie
promoviert. Da der Soziologie bislang eigene
Möglichkeiten fehlen, das Thema überhaupt
zur Sprache zu bringen, arbeitet Wiesse un-
ter dem Titel „Situation und Affekt“ an einer
konzeptionellen Erweiterung der soziologi-
schen Theoriesprache um eine affektive Di-
mension sozialer Situationen – also genau
dort, wo Affektivität öffentlich gemacht wird
und daher soziologische Forschung sinnvoll
ansetzen kann.
Verfolgt man die Diskussion zum Umgang
mit Affekten als Forschungsgegenstand, so
gestaltet sich diese derzeit als ein fortlau-
fender Prozess im Sinne von soziologischer
Grundlagenforschung. Für die Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler stellt
sich unter anderem eine forschungsprak-
tische Herausforderung: Wie lassen sich
Stimmungen und Atmosphären empirisch
Basil Wiesse
überhaupt greifbar machen und analysie-
ren? Bei einer von Schmidt mitorganisierten
Tagung zum Titel „Atmosphären und Stim-
mungen – zur Hintergrundaffektivität des
Sozialen“ verglich ein Referent diese Aufgabe
mit der Herausforderung, „einen Pudding
an die Wand zu nageln“. Die methodischen
Vorschläge, um Affekte greifbar zu machen,
variieren – auch abhängig von den jeweiligen
Forschungszielen. Neben klassischen quali-
tativen Befragungen über leitfadengestützte
Interviews werden auch technische Lösun-
gen vorgeschlagen, mit denen sich Daten
zu Körperhaltung, Augenkontakt, Rhyth-
mus der Konversation, Hormonspiegel oder
Mimik erfassen lassen, um die Interaktion
von Teilnehmern auszuwerten. Eine weite-
re Möglichkeit besteht darin, eine Gruppe
über Video zu beobachten, um dann anhand
der Aufzeichnungen quasi in Zeitlupe die
Struktur der aufgenommenen Situation bis
ins kleinste Detail zu entschlüsseln. So wur-
de beispielsweise von Wissenschaftlern über
fest installierte Kameras untersucht, wie sich
Profihandballer auf ein Spiel einstimmen,
um eine wettkampforientierte Team-Atmos-
phäre zu erzeugen. Einen anderen Ansatz
verfolgt Basil Wiesse, indem er auf ein Vi-
deogenre zurückgreift, für das Personen in
einer Situation – etwa einer Demonstration –
selbst involviert sind und mit Handkame-
ras oder Smartphones das Geschehen selbst
aufnehmen. Eine weitere Methode besteht
in ethnographischen Studien, bei denen sich
die Wissenschaftler über einen längeren Zeit-
raum selbst in einem bestimmten Umfeld
aufhalten, um dabei Daten zu erheben und
Beschreibungen anzufertigen. Hier werden
sie zu einem gewissen Grad zum Bestandteil
ihrer Umgebung und können so Erfahrun-
gen und Erlebnisse systematisch erfassen. Affekte zu analysieren. „Wer beispielsweise
eine Kirche betritt, unterhält sich in der Re-
gel automatisch leiser. Hier spielen Konven-
tionen und das Wissen einer Gruppe eine
Rolle. Man wird den implizit vorhandenen
Anforderungen eines Ortes gerecht und trägt
so dazu bei, dass die affektiven Erwartun-
gen anderer Menschen an diesem Ort erfüllt
werden. Und diese erfüllen wiederum ihrer-
seits meine eigenen Erwartungen an diesen
Raum“, erklärt Basil Wiesse das Wechselspiel
von Affekten. Diese spiegeln demnach ein
Prinzip der sozialen Eingebundenheit wider,
das kontinuierlich zwischen verschiedenen
Polen schwingt: Zwischen Zusammenhalt
und Desintegration sowie zwischen Reso-
nanz und Dissonanz. Für die wissenschaft-
liche Diskussion zu Affekten spielen dabei
auch der menschliche Körper und die je-
weilige Sozialisation eine zentrale Rolle. Wer
beispielsweise einen bestimmten Duft wahr-
nimmt – und sei es nur unbewusst – oder ein
Musikstück hört, verbindet damit Erfahrun-
gen aus der Vergangenheit, was wiederum
Einfluss auf das Handeln in der aktuellen
Situation hat.
Eine Herausforderung des jungen For-
schungsfeldes besteht auch darin, den Ein-
fluss von Räumen und Gegenständen auf Literatur:
Larissa Pfaller / Basil Wiesse (Hrsg.): Stimmungen
und Atmosphären – zur Affektivität des Sozialen.
Wiesbaden 2018 (Verlag Springer VS), 34,99 Euro.
Affektive Beziehungen beschränken sich
also nicht auf die Begegnung zwischen Per-
sonen, sondern bilden ein Netzwerk unter-
schiedlichster Faktoren. Sie beeinflussen die
Gedanken- und Gefühlswelt, die Wahrneh-
mung und schließlich auch das soziale Han-
deln. Jenseits der Untersuchung einzelner
Situationen wird sich im Lauf der weiteren
Forschung noch zeigen, ob und wie sich auch
Stimmungen und Atmosphären von ganzen
Gesellschaften bis hin zum „Zeitgeist“ sozio-
logisch untersuchen lassen.