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auf neuronaler Ebene beim Lernen oder
Sprechen von Fremdsprachen?
Böttger: Man muss da echt vorsichtig sein.
Wenn jemand eine Sprache verwendet, dann
kann man über Magnetresonanz messen,
wie es an bestimmten Stellen im Gehirn, die
wir jetzt kennen und eingrenzen können,
im Grunde zu einer Konzentration von Blut
und Sauerstoff kommt. Ganz besonders zum
Beispiel beim Lesen kann man sehen, wie
schwer das ist. Das kann ich nicht intuitiv
lernen, das geht nur explizit. Ein gelesenes
Wort wird von der Netzhaut in den visuellen
Kortex geleitet, um dann im linken Schläfen-
lappen verarbeitet zu werden. Dort bekommt
das Wort auch einen bestimmten Sinn und
kann dann eingeordnet werden. Das kann
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ich nachverfolgen und ich kann auch sehen,
wie es da passiert und in welcher Stärke. Was
wirklich bemerkenswert ist: Wenn jemand
zum Beispiel schlecht liest, kann man es
mittlerweile sehen. Aber wieder nur fallba-
siert, erst mit einer Erhöhung der Proban-
denzahl wird das sicherer und man bekommt
dann Befunde, die dagegen sprechen und
andere, die das dann unterstützen. Und das
ist schwierig. Ansonsten dilettieren wir da
aus meiner Sicht noch. Da zitiere ich gerne,
was der Neurowissenschaftler David Poeppel
2007 gesagt hat: We still don’t know much.
Gade: Ich denke, unabhängig von diesen
neuronalen Korrelaten, die wir in weiten Tei-
len ja noch nicht wirklich gut verstehen, gibt
es tatsächlich auch Verhaltensevidenz aus
Studien. Wenn jemand in der Lage ist, zwei
Sprachen relativ flüssig zu sprechen, sind
beide Lexika auch immer aktiv. Ein deutsch-
englischer Bilingualer, der ein deutsches
Wort aus einer Liste wählen soll, wird sehr
wahrscheinlich auch auf das englische Wort
schauen, wie die Analyse der Blickbewegung
zeigt. Und das ist glaube ich durchaus eine
gesicherte Erkenntnis. Wobei unter gesicher-
ter Erkenntnis ja immer nicht wahr oder
falsch zu verstehen ist in einer empirischen
Wissenschaft, sondern eine evidenzbasierte
Erkenntnis. Das ist vielleicht auch noch ganz
wichtig, dass wir ja empirisch forschen und
nicht formal-logisch, das heißt, wir sind auch
immer offen für Alternativbefunde und Al-
ternativerklärungen.
Vielleicht anknüpfend: Sie haben gesagt, es
wird speziell auf dem psychologischen Ge-
biet sehr viel getestet. Inwiefern hat Mehr-
sprachigkeit positive Effekte auf sprachliche
Fähigkeiten – auf das Erlernen anderer
Sprachen beispielsweise – und auf kognitive
Leistungsfähigkeit ganz allgemein?
Prof. Dr. Jens Kratzmann
Gade: Die Aufgaben, die wir klassischerwei-
se verwenden, beschäftigen sich mit Hand-
lungskontrolle, also mit dem Erreichen von
Zielen und den Möglichkeiten, mein Ziel
zu erreichen. Was wir sehen, ist, dass zum
Beispiel Kinder in der Lage sind, sehr viel
flexibler ihre Aufmerksamkeit auf neue Zie-
le zu lenken oder Handlungen schneller ab-
zubrechen und neue Handlungsalternativen
auszuwählen. Dies versucht man, weiterhin
empirisch zu untermauern: über Blickbewe-
gungen, Reaktionszeiten, Fehlerraten und
eben teilweise neuronale Daten, wobei das
bei Kindern tausendmal schwieriger ist, weil
wir relativ wenig wissen darüber, wie sich das
Hirn eigentlich entwickelt. Und was bedeutet
es tatsächlich, wenn ich Veränderungen im
Blutfluss messe – vielleicht atmet das Baby
auch einfach nur schwer? Man muss sich
auch immer klarmachen: Wenn wir hier von
verschiedenen Arealen reden, dann reden
wir von maximal drei bis fünf Zentimetern,
wo das räumlich stattfindet – und so lokal
sind leider unsere Aktivierungen nicht.
Herr Kratzmann, Sie mit Ihrer Erfahrung
speziell mit Kindern mit Migrationshinter-
grund: Gibt es da dezidiert positive Effekte,
die die Mehrsprachigkeit für diese Kinder
hat?
Kratzmann: Ich schließe mich in Bezug auf
die kognitive Leistungsfähigkeit an. Was
diskutiert wird, ist ein metasprachliches
Bewusstsein, was sich bei zweisprachig auf-
wachsenden Kindern entwickelt, und sie
sich dann leichter tun, eine dritte Sprache zu
lernen. Man kann Aufmerksamkeit testen,
da gibt es Ergebnisse, die zeigen, dass mehr-
sprachige Kinder da besser sind. Was man
erstmal denkt, ist, dass Migranten Schwierig-
keiten beim Erlernen der deutschen Sprache
haben und – was auch nachgewiesen ist – sie
erstmal zurückbleiben gegenüber anderen.
Aber sie holen dann eben später auch wie-
der auf und können das ganze wieder aufbe-
reiten. Rein kognitiv würde ich zustimmen,
dass es regulär Vorteile bringt.
Böttger: Wenn die Muttersprache gefördert
wird! Migrantenkinder haben ja eine eigene
Muttersprache. Es ist ein großes Missver-
ständnis, dass ihre Eltern versuchen, die
eigene Muttersprache zu vermeiden, um es
den Kindern vermeintlich leicht zu machen.
Wenn sich die Muttersprache nicht ausbildet,
dann fehlt ab dem etwa fünften oder sechsten
Lebensjahr in Wortschatz und Grammatik
ein Referenzmodell. Und wenn ich da nicht
einhake, wird es so bleiben. Da muss ich mit
denen nicht über Simple Past oder Present
Perfect reden, weil sie es nicht einordnen
können, sie haben einfach keinen Vergleich.
Wenn dilettiert wird in zwei Sprachen bei
natürlich bilingual Aufwachsenden, die also
nicht gefördert werden, oder gemixt wird –
es gibt ja diese Geschichten, dass Papa und
Mama dann meinen, sie müssten ihr Kind
bilingual aufwachsen lassen und dilettieren
dann –, da kommt es auch zu Sprachverwir-
rungen. Das ist aber hausgemacht. Die ko-
gnitiven positiven Prädispositionen sind mit
Sicherheit da. Aber wir tun oftmals Dinge,
auch institutionalisiert, die dem Stand des-
sen, was wir wissen, nicht entsprechen. 2019.
Mit unseren Kindern.
Ist es Konsens in dieser Runde, dass früher
Fremdsprachenerwerb generell von Vorteil
ist?
Alle: Nein (Kopfschütteln, Gelächter).
Böttger: Das muss man differenzieren.
Gade: Ich glaube, man muss es sehr differen-
zieren. Wenn sie einen 20-Jährigen, der eine
neue Sprache lernen muss, in 30 Jahren tes-
ten, werden Sie nicht merken, wann er die
Sprache erlernt hat. Worauf ich auch noch
gerne hinweisen möchte: Wir schauen natür-
lich auch immer selbst selektierte Stichpro-
ben an. Wenn Sie so ein Babylabor haben,
schreiben Sie die gesamte Elternschaft an
und gelangen natürlich nur an diejenigen,
die Interesse haben. Das korreliert natürlich
hoch mit dem Bildungsabschluss der Eltern.
Das heißt, wir untersuchen ein Umfeld mit
hohem sozioökonomischem Status und in
der Regel nicht Menschen, die vielleicht
mehr in Ihr Klientel fallen, Herr Kratzmann,
oder mit denen Sie, Herr Böttger, dann in der
Schule zu tun haben, und aus unterschiedli-
chen sozioökonomischen Schichten kom-
men. Deswegen müssen wir uns immer fra-
gen: Wie weit gehen diese Effekte und was ist
der Einfluss des sozioökonomischen Status?
Dass sozioökonomischer Status generell mit
besserer kognitiver Performanz einhergeht,
das ist, glaube ich, einer der bestbelegten Ef-
fekte in der Bilingualismusforschung. Das ist
natürlich ein kleiner Schatten auf diese ganze
„Mehrsprachigkeit ist toll“-Geschichte.
Böttger: Absolut.
Kratzmann: Also ich bin da ein bisschen op-
timistischer, zumindest für unsere Studien.
Gade: Das ist schön! (lacht, Gelächter).
Kratzmann: Unsere Stichprobe aus den Kin-
dertageseinrichtungen in Gebieten mit vie-
len mehrsprachig aufwachsenden Kindern
zeigt, dass wir tatsächlich Kinder haben aus
– ich möchte das Wort Schichten vermeiden –
Familien mit unterschiedlichem sozio-
ökonomischem Status. Der Mittelwert des
sozioökonomischen Status stimmt ziemlich
genau überein mit dem was wir insgesamt so
in Deutschland haben. Wir sind leider noch
in der Erhebung, aber wir werden auch für
Kinder mit niedrigem sozioökonomischen
Status ein bisschen weitreichendere Aussa-
gen treffen können.
Und vielleicht noch ein anderer Punkt: Ge-
rade solche Kinder mit niedrigerem sozio-
ökonomischem Status profitieren besonders
stark davon, wenn man ihre Erstsprache in
die Einrichtung integriert, also in das päd-
agogische Konzept der Einrichtung einbaut
und eben versucht anhand ihrer Erstspra-
chen die Verknüpfung mit und den Aufbau
der Zweitsprache herzustellen. Von daher
wäre da gerade die Integration der Erstspra-
che und das Aufgreifen dieser Sprache eine
sinnvolle Sache.
Böttger: Es ist dann die Frage, wie man das
macht. Generell scheint sich aus Sicht der Di-
daktik klar zu manifestieren, dass wir viel zu
viel erklären und zwar bereits im frühen Al-
ter. Wir müssen einfach intuitivere Möglich-
keiten finden – das tun wir ja mit der Erst-
sprache. Wenn die Grundlage dieser intuiti-
ven Aufnahme gelegt ist, dann hält das eine
Zeit lang an. Am Ende der Adoleszenz hat
man das nicht mehr und dann stellt man fest,
dass das erwachsene Sprachenlernen wieder
ganz anders funktioniert: Da wird mehr ex-
plizit gelernt, da wird kognitiver gelernt, da
wird übrigens auch schneller gelernt und da
ist das Sprachenlernen lebenslang möglich –
und zwar auf höchstem Niveau. Auch da ist
noch eine intuitive Sprachverwendung sehr
wohl möglich. Also man kann nicht sagen,
früheres Sprachenlernen ist besser. Es ist an-