CEWE OnTour 02/2019 | Page 54

Reisen B uddha hängt im Baum fest. Die Wurzeln umarmen seine Wangen, streicheln sein Gesicht. Die weiche Erde hat den Kör- per der Statue längst verschluckt, nur der steinerne Kopf lugt noch heraus. Die Augen sind halb geöffnet, die Lippen zu einem seligen Lä- cheln geformt, obwohl er doch nicht vor und nicht zurück kann. Obwohl er ganz langsam tiefer im Stamm zu versinken scheint. Dabei taucht er eigentlich gerade erst wieder auf. Das sagt zumindest Anusak Wiriyasiripoj, genannt »Nhoi«, der 46-Jährige Geschichtslehrer und Stadt- führer. Er steht neben dem Feigenbaum, an dessen Fuß sich schon eine Schlange von Besuchern ge- bildet hat, die Selfies mit dem Kopf im Hintergrund schießen wollen. Dieser Buddha sei die berühmtes- te Sehenswürdigkeit seiner Heimatstadt Ayuttha- ya, erzählt Nhoi. Erst vor rund 60 Jahren hätten die Wurzeln den Kopf, der wie der Körper der Statue einst im Boden verschwunden war, wieder an die Oberfläche gedrückt. Zusammen hätten die bei- den hier etwas Einzigartiges geschaffen, sagt Nhoi: »Kunst und Natur.« So wie Ayutthaya als Ganzes. Denn wie die Statue ist auch die Stadt wieder aus der Versenkung aufge- taucht. Einst war sie der Nabel des wichtigsten Königreichs, von dem die wenigsten jemals gehört haben. 417 Jahre lang, von der Gründung 1350 bis zur Zerstörung 1767, war Ayutthaya die Hauptstadt Siams. Auf die ersten Europäer, die sie im 16. und 17. Jahrhundert erreichten, wirkte die Stadt so groß wie Paris oder London – obwohl sie dank ihrer Lage im Delta des Flusses Chao Phraya und der vielen Kanäle eher wie Venedig aussieht, heißt es in einem frühen Reisebericht. Der Stolz der Stadt waren die 400 Tempel, die zu ihrer Blütezeit über den Ufern thronten. Von den meisten sind nicht viel mehr als die Mauern geblieben, aber von manchen ragen noch hohe Türme über die Dächer der Klein- stadt. Sie machen Ayutthaya, das nur rund 80 Kilo- meter nördlich von Bangkok entfernt liegt, zu ei- ner der wichtigsten historischen Stätten in Thailand. Und mit dem Fahrrad lassen sich die über die Stadt verstreuten Tempel, die seit 1991 zum UNESCO- Weltkulturerbe gehören, ganz einfach mit einem Der Stolz der Stadt waren die 400 Tempel, die zu ihrer Blütezeit über den Ufern thronten. 54 Die über die Stadt verstreuten Tempel lassen sich am besten per Fahrrad oder auf einem Elefanten- rücken erkunden. Crashkurs in thailändischer Geschichte verbinden. So hat es Nhoi, der höfliche Geschichtslehrer, zu- mindest geplant. Erste Station: Wat Phra Si Sanphet. Nirgendwo lässt sich die Größe des alten Königreichs besser er- ahnen als in dem Tempel in der Mitte der Insel. Drei Chedis, wie die kolossalen Türme, deren Form an ei- ne Glocke erinnert, im Buddhismus genannt werden, erheben sich hier über die Ruinen der Palastmauern, auf dessen Gelände sich der Tempel einst befand. Der Zutritt ist verboten, die Monumente dienen als Grabkammern für drei von Ayutthayas Königen. Nhoi deutet auf die seit- lichen Mauern: Die Um- risse der Fenster darin lau- fen spitz zu – dabei seien sie in der thailändischen Architektur traditionell rechteckig, erklärt er. Diese hier stammten also aus einer anderen Kultur. Der Handel machte Ayutthaya und damit ganz Siam zu einem der mächtigsten Königreiche Asiens. Europäer nann- ten das Land in einem Atemzug mit Indien und China. Tatsächlich waren die Chinesen die Ersten, die Beziehungen aufnahmen. Im 16. Jahrhundert folgte Japan, das es auf den siamesischen Salpeter zur Herstellung von Schießpulver abgesehen hat- te. Dazu kamen die Perser, die den König so sehr beeindruckten, dass ihre Soldaten sogar die Palast- wache stellen durften. Der europäische und der persische Baustil erfreuten sich in Ayutthaya bald großer Beliebtheit – und zeigen sich heute noch in den Ruinen von Tempeln wie Wat Phra Si Sanphet. Schließlich kamen die Europäer – Niederländer, Briten und Franzosen interessierten sich weniger für die Rohstoffe Siams als dafür, mit ihren schnel- len Schiffen den Handel zwischen den asiatischen Häfen zu organisieren. Ayutthaya wurde nicht nur zum Warenlager Asiens, sondern ab 1600 auch zu einem Schmelz- tiegel. Viele Händler ferner Länder ließen sich nieder. Es gab ein japanisches, ein portugiesisches und ein französisches Dorf, Menschen aus mehr als 40 Nationen sollen in der Stadt gelebt haben. Der Buddhismus war tief im Königreich ver- wurzelt. Mönche stellten etwa ein Fünftel der rund 300.000 Einwohner, und frühe europäische Reisende zeigten sich von ihrer Frömmigkeit ge- Der Handel machte Ayutt- haya zu einem der mächtigsten Königreiche Asiens. 55