Reisen
B
uddha hängt im Baum fest. Die Wurzeln
umarmen seine Wangen, streicheln sein
Gesicht. Die weiche Erde hat den Kör-
per der Statue längst verschluckt, nur
der steinerne Kopf lugt noch heraus. Die Augen
sind halb geöffnet, die Lippen zu einem seligen Lä-
cheln geformt, obwohl er doch nicht vor und nicht
zurück kann. Obwohl er ganz langsam tiefer im
Stamm zu versinken scheint.
Dabei taucht er eigentlich gerade erst wieder auf.
Das sagt zumindest Anusak Wiriyasiripoj, genannt
»Nhoi«, der 46-Jährige Geschichtslehrer und Stadt-
führer. Er steht neben dem Feigenbaum, an dessen
Fuß sich schon eine Schlange von Besuchern ge-
bildet hat, die Selfies mit dem Kopf im Hintergrund
schießen wollen. Dieser Buddha sei die berühmtes-
te Sehenswürdigkeit seiner Heimatstadt Ayuttha-
ya, erzählt Nhoi. Erst vor rund 60 Jahren hätten die
Wurzeln den Kopf, der wie der Körper der Statue
einst im Boden verschwunden war, wieder an die
Oberfläche gedrückt. Zusammen hätten die bei-
den hier etwas Einzigartiges geschaffen, sagt Nhoi:
»Kunst und Natur.«
So wie Ayutthaya als Ganzes. Denn wie die Statue
ist auch die Stadt wieder aus der Versenkung aufge-
taucht. Einst war sie der
Nabel des wichtigsten
Königreichs, von dem die
wenigsten jemals gehört
haben. 417 Jahre lang, von
der Gründung 1350 bis
zur Zerstörung 1767, war
Ayutthaya die Hauptstadt
Siams. Auf die ersten
Europäer, die sie im 16. und
17. Jahrhundert erreichten,
wirkte die Stadt so groß
wie Paris oder London –
obwohl sie dank ihrer Lage
im Delta des Flusses Chao
Phraya und der vielen
Kanäle eher wie Venedig
aussieht, heißt es in einem
frühen Reisebericht.
Der Stolz der Stadt
waren die 400 Tempel, die zu ihrer Blütezeit über
den Ufern thronten. Von den meisten sind nicht viel
mehr als die Mauern geblieben, aber von manchen
ragen noch hohe Türme über die Dächer der Klein-
stadt. Sie machen Ayutthaya, das nur rund 80 Kilo-
meter nördlich von Bangkok entfernt liegt, zu ei-
ner der wichtigsten historischen Stätten in Thailand.
Und mit dem Fahrrad lassen sich die über die Stadt
verstreuten Tempel, die seit 1991 zum UNESCO-
Weltkulturerbe gehören, ganz einfach mit einem
Der Stolz der
Stadt waren die
400 Tempel, die
zu ihrer Blütezeit
über den Ufern
thronten.
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Die über die Stadt
verstreuten Tempel
lassen sich am besten
per Fahrrad oder
auf einem Elefanten-
rücken erkunden.
Crashkurs in thailändischer Geschichte verbinden.
So hat es Nhoi, der höfliche Geschichtslehrer, zu-
mindest geplant.
Erste Station: Wat Phra Si Sanphet. Nirgendwo
lässt sich die Größe des alten Königreichs besser er-
ahnen als in dem Tempel in der Mitte der Insel. Drei
Chedis, wie die kolossalen Türme, deren Form an ei-
ne Glocke erinnert, im Buddhismus genannt werden,
erheben sich hier über die
Ruinen der Palastmauern,
auf dessen Gelände sich
der Tempel einst befand.
Der Zutritt ist verboten,
die Monumente dienen
als Grabkammern für drei
von Ayutthayas Königen.
Nhoi deutet auf die seit-
lichen Mauern: Die Um-
risse der Fenster darin lau-
fen spitz zu – dabei seien
sie in der thailändischen
Architektur traditionell
rechteckig, erklärt er.
Diese hier stammten also
aus einer anderen Kultur.
Der Handel machte
Ayutthaya und damit
ganz Siam zu einem der
mächtigsten Königreiche Asiens. Europäer nann-
ten das Land in einem Atemzug mit Indien und
China. Tatsächlich waren die Chinesen die Ersten,
die Beziehungen aufnahmen. Im 16. Jahrhundert
folgte Japan, das es auf den siamesischen Salpeter
zur Herstellung von Schießpulver abgesehen hat-
te. Dazu kamen die Perser, die den König so sehr
beeindruckten, dass ihre Soldaten sogar die Palast-
wache stellen durften. Der europäische und der
persische Baustil erfreuten sich in Ayutthaya bald
großer Beliebtheit – und zeigen sich heute noch in
den Ruinen von Tempeln wie Wat Phra Si Sanphet.
Schließlich kamen die Europäer – Niederländer,
Briten und Franzosen interessierten sich weniger
für die Rohstoffe Siams als dafür, mit ihren schnel-
len Schiffen den Handel zwischen den asiatischen
Häfen zu organisieren.
Ayutthaya wurde nicht nur zum Warenlager
Asiens, sondern ab 1600 auch zu einem Schmelz-
tiegel. Viele Händler ferner Länder ließen sich
nieder. Es gab ein japanisches, ein portugiesisches
und ein französisches Dorf, Menschen aus mehr
als 40 Nationen sollen in der Stadt gelebt haben.
Der Buddhismus war tief im Königreich ver-
wurzelt. Mönche stellten etwa ein Fünftel der
rund 300.000 Einwohner, und frühe europäische
Reisende zeigten sich von ihrer Frömmigkeit ge-
Der Handel
machte Ayutt-
haya zu einem
der mächtigsten
Königreiche
Asiens.
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