Bücher über Interreligiöse Spiritualität, Meditation und Universaler Sufismus Das Heilige Buch der Natur (Leseprobe) | Page 14
Die gängige Wissenschaft ist ein intellektuelles Wissen. Es dringt immer tiefer in die Natur ein und
fördert ungehemmt, fast zwanghaft, eine unglaubliche Menge von Details zu Tage. Der nächste Schritt
wäre ein Übersteigen dieses analysierenden Intellektes. Wenn wir den Intellekt übersteigen, bringt uns das
zu einer höheren Stufe der „innocence.“ Ich würde sagen: Murshid meint damit „Unbefangenheit.“ Er
nennt diese Haltung der Natur gegenüber auch eine „intuitive Haltung.“ Es geht dabei um eine neue Art der
Empfindsamkeit. Ein passendes deutsches Wort wäre vielleicht „lauschen.“ Die Fähigkeit dazu hat jeder
Mensch. Aber wichtig für die Entwicklung dabei ist, dass der moderne Mensch dazu die Stadt verlassen
muss. Empfänglichkeit der Natur gegenüber ist bei Frauen oft stärker entwickelt als bei Männern, sagt
Murshid. Als Eltern können wir unseren Kindern auf dem Weg dadurch helfen, dass wir ihnen die Natur in
all ihren Aspekten zeigen und davon erzählen.
Ich hatte in der Hinsicht eine gesegnete Kindheit. Zahllose Spaziergänge mit meinem Großvater durch
Wälder und Wiesen. Er zeigte mit seinem Stock auf Pflanzen, Bäume, Insekten und sagte mir die Namen. Er
selber pries sich auch einen glücklichen Menschen, da er Jacques P. Thijsse, den berühmten Gründervater
der holländischen Naturschutzbewegung, als Lehrer erleben durfte. Die Liebe zur und die Besorgtheit um
die Natur lehrte mich meine Mutter. Und mein Vater kam aus einer Familie von Förstern. Die Naturverbundenheit kam in seiner Wildheit und Wanderlust zum Ausdruck. Das Ergebnis war bei mir nicht, dass ich
unendlich viele Namen kenne. Mein Wissen hält sich in Grenzen. Aber als 5-jähriger hatte ich ein Erleuchtungserlebnis in der Natur. Ich erzählte schon darüber. Ein Erlebnis von tiefster Seligkeit, das mich seitdem
mein Leben lang beschäftigt. Später, als Schüler des Sufimeisters Pir Vilayat Inayat Khan, habe ich solche
Erlebnisse wieder erleben dürfen. Die Sufis nennen es Hal. Ein anderer Name wäre Samadhi. Was passiert
da? Murshid nennt dieses Phänomen „Revelation.“ Die Natur ist normalerweise verschleiert. Und dann auf
einmal offenbart sie sich als göttlich. Oder mit anderen Worten: Gott ist normalerweise hinter der Natur
verschleiert. Und dann offenbart er sich in seiner Einheit.
Eine andere Vision hatte ich als junger Mann: Nach der Trennung von einer zutiefst geliebten Frau
war ich alleine auf einer der Nordseeinseln. Ich lief durch die Landschaft und auf einmal war es, als ob
ein Schwert die ganze Natur durchtrennte. Die Natur war da wie eine Gardine, aber dahinter wurde etwas
anderes sichtbar. Die Natur war wie eine Erscheinung von etwas. Und da verstand ich, dass meine Mitmenschen für dieses Etwas das Wort Gott benutzen. Die Sufis kennen dieses Erlebnis und sagen deshalb, dass
die Natur ein Buch ist. Ja, die Natur ist ein Lehrtext. Sa´adi, der berühmte persische Sufidichter sagt: „Jedes
Blatt eines Baumes wird zu einem Buch der Offenbarung für denjenigen, der sieht, und er liest die ganze
Natur als ein Buch.“
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