Vorstellungskraft als Schlüssel : politische Bildung in Bulgarien
BILDEN
Bulgariens jüngere Geschichte soll Einzug in den Schulunterricht nehmen . Die NGO Sofia Platform Foundation setzt sich dafür ein , bei Jugendlichen und Lehrenden in strukturschwachen Regionen Interesse für Fragen der Demokratie und Teilhabe zu wecken . Warum das kein leichtes Unterfangen ist , erzählt die Gründerin der Plattform Louisa SLAVKOVA in ihrem Gastbeitrag .
» Mehr Selbstbewusstsein , das würde ich ihnen gerne beibringen , aber wie mache ich das bloß ?« meldet sich Dimitar G . zu Wort . Er ist Anfang 50 und Geschichtslehrer in einer der größten Oberschulen in Kardzhali . Die Stadt liegt im Süden Bulgariens , eingebettet in das Rhodopengebirge an der Grenze zu Griechenland und der Türkei . Etwa 66.000 EinwohnerInnen – die Mehrheit davon gehört der türkischen Minderheit an – leben in dieser malerischen Gegend . Es ist eine geschichtsträchtige Region , die bereits vor 3000 Jahren besiedelt wurde und in der die Spuren der Antike bis heute sichtbar sind . In den 1980er Jahren , zu Zeiten des Kommunismus in Bulgarien ( 1946 – 1989 ), war die Gegend am stärksten vom sogenannten Wiedergeburt-Prozess betroffen . So wurden etwa Angehörige der türkischen Minderheit vom Regime dazu genötigt , ihre türkischen Namen in bulgarische abzuändern . All jene , die sich weigerten , wurden zur Ausreise gezwungen . An die 360.000 Menschen verließen damals das Land , bis Ende der 1990er Jahre kam knapp die Hälfte von ihnen wieder zurück . Seitdem leben in und um Kardzhali Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft friedlich miteinander . Das ist nicht selbstverständlich , denn gerade in den Umbruchjahren der 1990er Jahre , als Souveränität und Selbstbestimmung im ehemaligen Ostblock neu verhandelt wurden , hätten die Entwicklungen auch anders verlaufen können . Davon zeugen die Kriege und ethnischen Konflikte in anderen Ländern der Balkanregion . Während man im öffentlichen Diskurs und im Schulunterricht mit Stolz auf die Mythen der Antike verweist , findet dieser friedliche Übergang in der jüngsten Geschichte des Landes keine angemessene Erwähnung . Es
fehlt eine öffentliche Auseinandersetzung darüber , dass man einerseits die türkische Minderheit in Bulgarien für die Ereignisse der 1980er Jahre um Vergebung bitten sollte , auf der anderen Seite aber auch stolz sein kann auf den ausgehandelten Frieden jener Jahre . Was bleibt , sind die persönlichen Erinnerungen aus Familiengeschichten .
Kritisches Denken vermitteln Dimitar zählt nicht zu den vielen Lehrenden , die solch kontroverse , oft politisierte Themen vermeiden . 2019 hat er seine SchülerInnen zu einer Unterrichtsstunde im Freien in das verlassene Dorf Oreshari gebracht , das einst von bulgarischen TürkInnen bewohnt war . Die Veranstaltung wurde von der Sofia Platform Foundation organisiert , einer NGO , die ich vor acht Jahren gegründet habe . In Oreshari folgten Dimitar und seine SchülerInnen dem jungen Künstler Bayryam Bayryamali , der ihnen anhand von Dokumenten von ZeitzeugInnen sowie Gegenständen aus den Überresten der Häuser erklärte , was der Wiedergeburt-Prozess für ihn , seine Identität , für seine Familie und die bulgarische Nation bedeutet . Viele der SchülerInnen hörten hiervon zum ersten Mal . Dimitar ist ein offener Anhänger Putins und Russlands , aber er hat eine Eigenschaft , die vielen GeschichtslehrerInnen fehlt : Er stellt seine eigene Meinung hintan und bringt Jugendlichen kritisches Denken bei . Er lässt sie durch verschiedene interaktive Methoden eigene Erfahrungen sammeln . Denn Dimitar weiß , dass es beim Lehren nicht um ihn , sondern um die Jugendlichen geht . Außerhalb des Unterrichts bekennt er sich jedoch offen zu seiner politischen Meinung und man erkennt einen Hauch von kom-
Louisa Slavkova ist Politikwissenschaftlerin und Geschäftsführerin der Sofia Platform Foundation in Bulgarien . 2021 hat sie eine pan-europäische Lern- und Austauschplattform für Lehrende mitbegründet . Sie ist im Beirat des European Network for Civic Education ( NECE ) und fungiert seit 2019 leitend im Capacity Building Programm von Civic Europe , einem Programm für lokale zivilgesellschaftliche Akteure in sogenannten civic deserts in Ostmittel- und Südosteuropa .
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