Ausgebrannt? Rettungspläne für die Demokratie 2/2021 - Page 16

ENTSCHEIDEN

Sebastian Schäffer

Ist die europäische Demokratie noch zu retten ?

Der beste Moment für Reformen liegt bereits hinter uns , so Sebastian SCHÄFFER in seinem Gastkommentar . Der Politikwissenschaftler weiß um die Dringlichkeit einer » Wiederbelebung « der Europäischen Union . Die vorhandenen Rettungspläne müssten jedoch jetzt mutig und breit diskutiert werden .
Über Jahrzehnte wurde die Europäische Integration u . a . von dem Narrativ getragen , dass sie aus Krisen gestärkt hervorgeht . Die Politik des leeren Stuhls * in den
1960er Jahren führte zur Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips , die Zerfallskriege im ehemaligen Jugoslawien zu Beginn der 1990er Jahre zum Aufbau einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik . Mit dem Scheitern des Entwurfs über eine Verfassung für Europa an den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 kam es schließlich zum Vertrag von Lissabon . Ein großer Wurf war es wieder nicht geworden , aber mit einem Schritt zurück , zwei nach vorn , kommt man auch voran . Wenn auch langsam , dafür immerhin stetig . Dabei herrschte die Annahme vor , dass Erweiterung auch mit Vertiefung einhergeht . Mehr Mitgliedsstaaten hieße demnach auch mehr vergemeinschaftete Politikbereiche . Das eine folgt dem anderen .
So sollte irgendwann die Europäische Union ( EU ) mit Europa gleichbedeutend und fortan alle Entscheidungen gemeinschaftlich getroffen werden . Die sogenannte » Methode Monnet « wurde allerdings im Dezember 2009 de facto abgeschafft , ohne dass es eine breitere Diskussion darüber gegeben hätte . Dieses Ziel scheiterte aber auch daran , dass es ganz generell abseits der politischen Eliten und EU-Nerds an Debatten zur Ever Closer Union fehlte . Was 1952 durch die Vergemeinschaftung von Kohle und Stahl begann , basiert auf der Annahme , dass die erfolgreiche Kooperation in einem Politikbereich in weitere Bereiche übergeht bis die Zusammenarbeit irgendwann alle erfasst . Mit dem Vertrag von Lissabon wurde diese Idee begraben , denn mit der Möglichkeit für die Mitgliedstaaten sich Kompetenzen zurückzuholen , greift dieses Prinzip nicht mehr . Dabei war es keine böse Absicht . Mit der Hoffnung dadurch
Sebastian Schäffer ist Geschäftsführer des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa ( IDM ) in Wien und Generalsekretär der Danube Rectors ‘ Conference ( DRC ). Er ist Gründer und Inhaber von SeminarsSimulationsConsulting ( SSC ) Europe , einer Plattform zur Vermittlung von Lehr- und Lernmethoden sowie Politikberatung für europapolitische Themen . Schäffer ist zudem Associate Fellow am Centre for Global Europe des GLOBSEC Policy Institute , Bratislava .
Inte grationswillen zu schaffen , schlitterte die EU jedoch ungewollt in die nächste Krise . Erstmals war nämlich auch die Option vorgesehen , dass Mitgliedstaaten wieder austreten . Das Gegenteil von gut ist gut gemeint . Nach der Finanz- und Eurokrise 2007 / 2008 , der sogenannten Migrationskrise 2015 kam 2016 auch noch der Brexit hinzu . Zusätzlich dominiert seit über einem Jahr eine Pandemie unser Leben . Was also , wenn die Krisen nie aufhören bzw . ineinander übergehen oder sogar parallel verlaufen ? Kann man dann immer noch gestärkt daraus hervorgehen ?
Regionale Ungleichzeitigkeit Anfang der 1990er Jahre beschrieb der deutsche Soziologe und Politikwissenschaftler Claus Offe die Notwendigkeit , gleichzeitig politische und wirtschaftliche Transformationen – und in einigen Fällen auch Staatsbildungsprozesse – in Mittel- und Osteuropa durchführen zu müssen als » Dilemma der Gleichzeitigkeit «. Die Herausforderungen für einen sozialen und gesellschaftlichen Wandel sind darin noch gar nicht inkludiert . Der deutsche Philosoph Ernst Bloch hat bereits in den 1930er Jahren auf den Umstand hingewiesen , dass nicht alle Bereiche der Gesellschaft Fortschritte zur selben Zeit und gleich umfassend durchlaufen und nannte diesen Zustand Ungleichzeitigkeit . Im Hinblick auf die heutige EU können wir also durchaus von einem Dilemma der Ungleichzeitigkeit sprechen . Ein System , das nicht in der Lage ist , sich an neue Gegebenheiten anzupassen , droht zu scheitern . Vor allem wenn diese Notwendigkeit noch nicht von allen Teilen der Gesellschaft erkannt oder , heute sogar noch relevanter , nicht empfunden wird . Der beste Moment für eine breit angelegte Diskussion über eine Reform des institutionellen Aufbaus wäre unmittelbar nach Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses in London gewesen . Der zweitbeste Moment ist jetzt . Vorschläge zu diesem Wandel gibt es genug . Von einer Europäischen Republik bis zu einem Europa
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