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Wolfgang Kaschuba,
Direktor des Instituts für
Europäische Ethnologie,
Humboldt-Universität
Berlin
Peu à peu
Sind wir das nicht schon – jedenfalls
im Vergleich zu früheren Generationen? Als Menschen, die in Europa
arbeiten und reisen, ohne dabei groß
darauf zu achten, was auf dem Pass
steht? Stattdessen viel eher auf Interesse und Neugier, auf Geschmack
und Gefallen, auf Lebenslust und
Lebensstil. Dass dies so vielen Menschen möglich ist, quer über ehemalige Religions-, Währungs- und
Landesgrenzen hinweg, jenseits trennender Mauern und Eiserner Vorhänge, das ist für mich etwas sehr
Europäisches.
Denn Europäisch wäre vielleicht genau dies: offen zu sein für Vielfältiges
Moritz Baumgärtner,
Jazz-Drummer
bei Bonaparte und
Melt Trio
und Unterschiedliches; sich frei zu
fühlen von vielen Zwängen lokaler wie
nationaler, ethnischer wie religiöser
Enge; reflektiert umzugehen mit individuellen Zuordnungen zu Stilen und
Milieus, zu Gruppen und Identitäten;
und sich dabei des Privilegs bewusst
zu bleiben, in dieser europäischen
Landschaft der Gesellschaften und
Kulturen zwar Herkunftsheimaten
zu besitzen, sie jedoch auch verlassen
zu können. Denn abseits der Stammtische und PEGIDA-Parolen und vor
allem unter den jungen Generationen,
die unterwegs sind zum Erleben, Arbeiten, Studieren, ist Europa vielfach
längst Alltag. Nicht als neue Supernation, sondern als offener Raum für
Lebensentwürfe, in denen gleichwohl
Denk- und Meinungsfreiheit, Grundrechte und Gerechtigkeitsgefühle
verbindende Werte bilden können.
Anknüpfend an humanistische und
demokratische Traditionen der europäischen Geschichte.
Nationale Eindrücke
verschmelzen
Für mich ist Europa eine riesige
„Spielwiese“ mit vielen verschiedenen
Geschichten, Klängen, Gerüchen und
Geschmäckern, derer ich mich bediene, um meine Musik ehrlich und
individuell zu gestalten. Viel mehr
noch: Musik ist für mich gelebte Einheit. Bei Bonaparte sorgen mittlerweile mehr als 20 Künstler aus allen
Ecken Europas und der Welt für einen ganz speziellen Sound – und das
Melt Trio, eines meiner neuen Projekte, trägt die Verschmelzung der
Stile schon im Namen.
KENNEN SIE EIGENTLICH DEN UNTERSCHIED ZWISCHEN SINTI UND ROMA?
Das Schöne an Musik ist, dass sie nur
richtig gut funktioniert, wenn wir
aufhören, geldpolitische Interessen
zu verfolgen und unsere Ängste überwinden. Wenn wir uns anderen Menschen und Lebensarten öffnen, sie als
Inspiration zu schätzen lernen und
annehmen – das heißt, wenn wir ein
gemeinsames Leben leben, bei dem
jeder Teilnehmer wie eine Stimme
in einer Partitur seinen individuellen
Klang und Ausdruck hat und zum
Gesamtwohlklang beiträgt.
Ob das nun die strahlende Melodiestimme ist oder nur ein einzelner Akzent, der äußerst sparsam eingesetzt
wird: Alle Teile eines Ganzen können
immer nur zusammen wirken und
mit Respekt für einander kommunizieren. Ich habe jeden Tag mit den
Grundsätzen dieses „Zusammenspiels“ zu tun. Anders gesagt: Durch
mein Schaffen als Musiker werde ich
Tag für Tag und Schritt für Schritt
zum Europäer.
Quellen: Zentralrat der Sinti und Roma, Landesverband
der Sinti Hamburg, Antidiskriminierungsstelle des
Bundes, Romane Romnja
Die zwei Gruppen werden nicht nur von (fast) jedem in einen Topf geworfen, sondern auch
dazu angehalten, sich besser zu integrieren. Beide Minderheiten werden in der Schlussfolgerung
nicht als Teil der deutschen Nation angesehen. Obwohl sie im Fall der Sinti schon länger in
Deutschland leben, als dieses selbst existiert.
Das sagt die Geschichte
Sinti
Roma
Deutsche Staatsbürger, Teilgruppe
der Roma, Vorfahren seit dem
14. Jahrhundert auf deutschem Boden.
Deutsche oder europäische Staatsbürger,
in mehreren Phasen eingewandert. *
Ab 1900 im Zuge der
Industrialisierung aus
Polen.
Ab den 1950iger Jahren
als Gastarbeiter aus
Spanien, Ex-Jugoslawien,
Griechenland und Türkei.
Das sagen die Deutschen
Ab den 1990iger Jahren,
nach dem Zusammenbruch
der UDSSR sowie in Folge
der Jugoslawienkriege als
Flüchtlinge wegen
systematische Vertreibung
aus dem Kosovo.
Seit 2007, im Zuge der
EU-Osterweiterung Teil II
aus Bulgarien, Rumänien.
Vorschläge der Befragten für ein gutes Zusammenleben,
Auswahl von Negativbeispiele
4,6%
79,6%
49,6%
22%
Bekämpfung von
Leistungsmissbrauch **
Einreisebeschränkungen
Abschiebung
91,3%
bessere
Integrationsangebote
Machen Sie einen Unterschied
zwischen der Gruppe
der Sinti und der Roma?
*Die Sprachforschung (Romanes-Linguistik) geht von einem Ursprung der Roma vor über 700 Jahren
in Zentralindien aus. Roma-Interessensverbände verweisen darauf, dass ihre Urvätergeneration für sie
– so wie für alle anderen Deutschen auch – keinerlei identitätsstiftende Bedeutung habe.
**Die Frage ist falsch gestellt, denn niemand ist für Leistungsmissbrauch, bzw. gegen dessen Bekämpfung.
Quellen: Zentralrat der Sinti und Roma, Landesverband der Sinti Hamburg, Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Romane Romnja