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Die Natur ist die Zukunft
Vanessa Braun und Norman Glatzer , Natur-Youtuber
Wenn wir nicht ins finstere Mittelalter inklusive Pest und anderer ekliger Seuchen zurückfallen wollen , sind Antibiotika für uns unverzichtbar . In unserem Buch lobpreisen wir darum Streptomyces rimosus , der die Basis für ein sehr wirksames Antibiotikum liefert . Dennoch sollten wir diese Medikamente nicht unbedacht einsetzen . Manchmal gäbe es schonendere Alternativen . Klinische Studien haben beispielsweise gezeigt , dass Meerrettich bei bestimmten Atemwegs- und Harnwegsinfektionen ähnlich gut wirkt wie ein herkömmliches
Hansheinrich Kolbe , Leser
Endlich umsteuern
Ich warne bereits seit über 50 Jahren vor dem Missbrauch von Antibiotika . Viele Ärzte rezeptieren aus Verantwortungslosigkeit und Bequemlichkeit Antibiotika , obwohl keine Indikation dafür vorliegt . Das Ausstellen eines Antibiotika-Rezepts dauert Sekunden im Praxisalltag , eine Beratung des Patienten betreffs Prävention und Therapie ohne Antibiotika mindestens 10 bis 20 Minuten . Und aufgrund des Konstrukts unseres zwischenzeitlich in vielen Bereichen veralteten Gesundheitssystems werden diese Beratungen nicht honoriert . Ein Beispiel : Einen komplizierten Harnwegsinfekt und einen banalen grippalen Infekt mit Antibiotika zu therapieren , ist nach unserem heutigen Wissensstand obsolet , ja sogar kriminell wegen der dadurch ausgelösten Resistenzentwicklung der pathogenen Bakterienstämme . Zusätzlich werden weiterhin sehr häufig Antibiotika von Veterinären in der Nutztierhaltung eingesetzt , obwohl dieses Vorgehen gesetzlich untersagt ist . Ein verantwortungsvoller , bewusster und zielgerichteter Umgang mit Antibiotika wäre die Lösung , in Verbindung mit der korrekteren Information unserer Patienten . Dann würde der Satz „ Der Arzt hat mir noch nicht einmal Antibiotika verschrieben , deswegen gehe ich jetzt zum nächsten “ der Vergangenheit angehören . Nicht nur in puncto Klimawandel , sondern auch im Bereich extreme Zunahme der Antibiotikaresistenzen gehen wir einer Katastrophensituation entgegen beziehungsweise befinden uns bereits mittendrin .
Antibiotikum , dabei jedoch kein Massensterben im Mikrobiom verursacht . Doch Antibiotika schaden nicht nur unserer Darmflora , sondern auch der Natur . In der Tierhaltung werden jährlich rund 700 Tonnen allein in Deutschland eingesetzt und anschließend in Form von Gülle überall im Land verteilt . Das belastet das Grundwasser und tötet wertvolle Mikroorganismen im Boden . Dabei ist es die Natur , die uns helfen kann , den Antibiotikaeinsatz zu reduzieren . Manche
INNOVATION Die Forschung an neuen Antibiotika
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neu entdeckte Wirkstoffe
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neue Wirkstoffkombinationen
Anti-Pilz- Medikamente
I m Ze i t ra u m Se p te m b e r 20 1 7- Ju n i 20 19
Schürfen nach neuen Wirkmechanismen
Die meisten Antibiotika adressieren nur wenige der potenziell tödlichen Angriffsziele in Bakterien . Im Laufe der Zeit haben sich dagegen multiple Resistenzwege gebildet , die deren Effektivität drastisch herabsetzt . Immer mehr Menschen mit einfachen Infektionen können so nicht mehr behandelt werden , die Zahl der Todesfälle steigt . Um neue Wege gegen diese schleichende bakterielle Pandemie zu finden , müssen wir die
WIRKSTOFFE IN ANTIBIOTIKA-KANDIDATEN
54 Projekte
FORSCHUNGSPROJEKTE ZU ANTIBIOTIKA
Stephan A . Sieber , Professor für Organische Chemie , Technische Universität München
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Antibakterielle
Medikamente
Pilze enthalten immunmodulierende Beta-Glucane und können so bei der Infektionsprävention helfen . Das senkt den Bedarf an Antibiotika . Auch zur Bekämpfung von resistenten Erregern wie MRSA könnten Pflanzen und Pilze eine wichtige Rolle spielen , denn viele von ihnen enthalten antibiotisch wirksame Stoffe , die nur darauf warten , entdeckt und erforscht zu werden . Von Austernseitling bis Zunderschwamm – die Natur ist die Zukunft .
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modifizierte bekannte Medikamente
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Antibakterielle Impfstoffe
Quelle : Access to Medicine Foundation
Christine Wunsch , Leserin
Reflektiert einsetzen
Der rationale Einsatz von Antibiotika kann der Entstehung von Resistenzen vorbeugen und somit die Wirksamkeit von langbewährten und gutverträglichen Antibiotika erhalten . Die praktischen Kenntnisse über Auswahl und Dosierung von Antibiotika erwirbt ein junger Arzt jedoch leider allzu oft im Klinikalltag so nebenbei . Eine systematische , wissenschaftlich fundierte Ausbildung fehlt . Interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Pharmakologen und Mikrobiologen findet höchstens in großen Unikliniken statt . Nach der Niederlassung steht der Arzt vor einer ganz anderen Situation , für die sein in der Klinik erworbenes Wissen unpassend ist . In Kliniken geht es um die Behandlung schwerer , oft vergeblich ambulant vortherapierter oder auch nosokomialer Infektionen . Wendet man die für diese Indikationen geeigneten Antibiotika auch bei einfachen , ambulant erworbenen Infektionen an , wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen – mit entsprechenden Kollateralschäden auch in Form von Antibiotikaresistenzen . Wir brauchen einen „ Klimawandel “ in der Ärzteschaft weg vom unreflektierten Einsatz , hin zur rationalen Auswahl des Wirkspektrums unter der Maxime „ So breit wie nötig , aber so schmal wie möglich “. Voraussetzung dafür ist eine gute Aus- und Weiterbildung sowie interdisziplinäre Zusammenarbeit sowohl in Kliniken als auch im ambulanten Bereich .
Nadia Lea Umbach , Leserin
Die Natur bietet so viele pflanzliche Alternativen , wie Knoblauch , Kamille , Zwiebel , Ringelblume und viele mehr . Bewusst informieren und nicht gleich zur Tablette greifen , ist meine Empfehlung . Denn wenn wir nicht aufpassen , bekommen wir mit den Antibiotikaresistenzen große Probleme in der medizinischen Versorgung .
Ihr Name , Leserin
Was ist Ihre Meinung ?
Schreiben Sie uns Ihre Antwort auf eine der Fragen der letzten Seite – vielleicht erscheinen Sie dann im nächsten Heft .
ausgetretenen Pfade der klassischen Antibiotika verlassen . Mit über 300 essenziellen Proteinen in Bakterien gibt es eine große Auswahl an neuen Angriffszielen , deren Potenzial stärker ausgeschöpft werden sollte . Ein vielversprechender Ansatz ist das systematische Schürfen nach neuen Angriffszielen . Dies kann mit chemischen Molekülen erfolgen , die auf Proteinklassen wirken , welche für das Überleben der Bakterien besonders relevant sind . Zudem stellen Naturstoffe , die etwa Pflanzen zur Abwehr von Bakterien produzieren , eine wichtige Inspiration für innovative Wirkmechanismen dar . Auch wenn viele der heutigen Antibiotika ebenfalls Naturstoffe sind , ist das Potenzial , neue Wirkmechanismen aus der Natur zu erschließen , bei Weitem nicht erschöpft . Computerbasierte Methoden erlauben
das gezielte Suchen nach neuen Substanzen mit großem Potenzial als Therapeutika der Zukunft . Es bedarf jetzt des Engagements , diese neuen Wege in der Antibiotikaforschung zu beschreiten und damit eine tödliche Pandemie auf den letzten Metern abzuwenden .