+3 Magazin Juli 2020 | Page 6

6 +1 › Ralph Bruder, Professor für Arbeitswissenschaft, Technische Universität Darmstadt Das neue Normal Der starke Impuls, ausgelöst durch die Corona-bedingten Einschränkungen in Richtung einer Digitalisierung von Abläufen, wird Arbeit nachhaltig verändern. So wird in vielen Unternehmen und Institutionen zukünftig die Frage zu beantworten sein, warum nicht – wie schon während Corona geübt – auch weiterhin von zu Hause gearbeitet werden kann. Prozesse wurden komplett umgestellt und Organisationen werden nicht wieder zu einem vorherigen Zustand zurückkehren wollen. Damit die aktuell gelebte Agilität auch nachhaltig Bestand hat, spielt die Beachtung menschbezogener Bedürfnisse eine entscheidende Rolle. Dies betrifft die nur zu verständliche Forderung nach Christof Otte, Sportwissenschaftler und Schmerztherapeut Den Blick weiten Wenn ich an die Arbeitswelt von morgen denke, sehe ich Bewegung. Bewegung ist das Allheilmittel und die einzige Prävention gegen Bewegungsmangel. Das Organ, das wie kein anderes auf Bewegung angewiesen ist, ist unser Gehirn. Es benötigt Informationen aus unserem Bewegungsapparat, um den gesamten Organismus zu koordinieren. Dabei interagieren Gehirnbereiche in komplexen Netzwerken. So ist die Motorik unserer Augen für koordinierte Körperbewegungen mitverantwortlich. Immer wieder beobachte ich in meiner Praxis, dass Menschen mit zum Beispiel Nackenverspannungen eine gestörte Koordination ihrer Augenbewegungen haben. Das Problem tritt insbesondere bei Menschen an Bildschirmarbeitsplätzen auf, da hierbei der Blick überwiegend in die Nähe gerichtet ist. Was fehlt, ist der Blick in die Ferne, den unsere körperlich tätigen Vorfahren in der freien Natur den ganzen Tag hatten. Die ständige Anspannung der Augenmuskeln für das Fokussieren der Nähe stimuliert durch die Verschaltungen im Hirnstammbereich unsere Rumpfmuskulatur einseitig und verspannt unsere Muskeln, insbesondere im Nacken. Wenn ich an das neue Arbeiten denke, sehe ich große Bildschirme, die deutlich weiter entfernt vom Auge als heute platziert sind und mit einer entsprechenden bewegungsverführenden und bedarfsgerechten Arbeitsumgebung größere Augen- und Kopfbewegungen zum Wohle unseres Gehirns zulassen. einer Technik, die zu einer wirklichen Vereinfachung von Abläufen und eben nicht zu einer Anpassung von gut funktionierenden Abläufen an technische Unzulänglichkeiten führt. Es betrifft ganz besonders die Förderung der Eigenverantwortung von Beschäftigten. Eine von allen Beteiligten gewollte und dann auch entsprechend geschulte Eigenverantwortung ist beispielsweise die Voraussetzung für erfolgreiches Arbeiten von zu Hause. Schließlich sollte eine weitere Corona-Erfahrung nicht zu schnell wieder vergessen werden. Der direkte, nicht durch Technik vermittelte Kontakt zwischen Menschen ist wertvoll für das Wohlbefinden, aber auch für den wirtschaftlichen Erfolg. Zukünftige Arbeit misst den zwischenmenschlichen Kontakten daher eine hohe, zu schützende Bedeutung zu. 45% Arbeitsatmosphäre 21% UNTER STRESS Diese Faktoren erschweren uns das Arbeiten Dauerhafte Erreichbarkeit Tiemo Kracht, Gründer und Geschäftsführer BOARD CONNECT GmbH Form folgt Funktion Die Debatte über die Arbeitsstrukturen der Zukunft wird in Deutschland oft aus einem einseitigen Betrachtungswinkel geführt. Das neue Arbeiten wird durch Buzzwords wie Open Space, Kreativräume, Agiles Führen, Office Sharing oder Homeoffice unterlegt und klammert nicht selten 31% New Work braucht auch New Leadership Große Aufgabenmenge 46% Zeitdruck Kerstin Sarah von Appen, Organisationsentwicklerin und New-Work-Autorin 32% Leistungsdruck 21% Angst um Arbeitsplatz Umfrage unter 2.027 Personen in Deutschland, Juni 2019; bis zu drei Antworten waren pro Person möglich Quellen: SwissLife, YouGov DIES IST EINE GESPONSERTE ANTWORT, ALSO EINE ANZEIGE Produktionsunternehmen mit einem hohen Anteil gewerblicher Fachkräfte aus. Insofern bleiben auch die künftigen Unternehmenswelten bunt. Weder die gegen die menschliche Natur wirkenden Großraumbüros noch die „Creative Spaces“ à la Google werden allein das Arbeitsleben prägen. Auch werden die Menschen sich nicht in Scharen ins Homeoffice flüchten. Diverse Arbeitsformen können im Wirtschaftsgeschehen koexistieren. Die Arbeit und das Unternehmen sind und bleiben für die Menschen ein wichtiger sozialer Bezugsrahmen, in dem sie produktiv sein und in ihrem Teambezug Anerkennung finden Ein neues Führungsverständnis ist gefragt, um neue Konzepte des Arbeitens zu ermöglichen und den Begriff New Work mit Leben zu füllen. Gerade in einer Zeit wie dieser, so dynamisch und unsicher, müssen Führungskräfte noch stärker als bislang eine orientierende Rolle wahrnehmen. Sie müssen Sinn, Vision und Werte vermitteln, Vertrauen schaffen und gemeinsames Vorankommen fördern. Balancierte Selbstführung, innere Stabilität und Reflexionsfähigkeit sind dabei essenzielle Führungsfähigkeiten, um das Beste in Organisationen zu entfalten. Die Haltung von Führungskräften beeinflusst maßgeblich die Unternehmenskultur. Eine gelebte Vertrauenskultur ist das Fundament, um all das, was für eine neue Arbeitswelt gerade diskutiert wird, zum Klingen zu bringen: Umgehen mit Veränderungen, Zusammenarbeit über Bereichsgrenzen hinweg, Selbstverantwortung. Führungskräfte sollten immer mehr zu Ermöglichern werden und von Kontrolle auf Empowerment umschalten – mit einer empathischen, coachenden Haltung auf Augenhöhe. Das heißt keinesfalls, dass Führung überflüssig wird. Führungskräfte tragen nach wie vor die Verantwortung für die Formulierung von Zielen, Strategien und Ergebnissen, müssen jedoch Autonomie zulassen und zunehmend Kontrolle über die Umsetzung abgeben. Für alle New-Work-Ansätze gilt: Es bedarf der ehrlichen Bereitschaft der Führungsebene, sich auf neue Wege einzulassen – und des gegenseitigen Vertrauens, diese Wege zu gehen. Illa Lauterbach, Leserin Austausch gesucht Mit der Corona-Krise wurden viele von der Digitalisierung überflutet wie eine Straße vom Hochwasser. Es brauchte Zeit, bis sich eine vernünftig geplante Routine einstellen konnte. Die digitale Form der Arbeitskommunikation ist jedoch eine sehr verdichtete Art des Austauschs. Es müssten Kommunikationsformen entwickelt werden, die das beiläufige soziale Zusammensein ermöglichen. Austausche, irgendwo zwischen Smalltalk und Fachgespräch, schaffen die Verbindungen, die Vertrauen und Kreativität fördern. Mediale Lösungen können die physische Präsenz nicht kopieren, vielleicht aber eine Zeit lang ersetzen, wenn die Kommunikationspartner in der Lage sind, eine sich neu bildende Körper- und Zeichensprache im digitalen Raum zu entwickeln. wollen. Diese arbeitsbezogene Wertschätzung setzt auch bei noch so agiler Führung Nähe und Begegnung voraus, die nicht dauerhaft digitalisiert werden kann. Menschen suchen mehrheitlich auch ein berufliches Zuhause, streben aber nach mehr Flexibilität in der Arbeitsstruktur. Sie wollen konzentriert und wertschöpfend arbeiten können, was auch nach Meinung der Wissenschaft in offenen Arbeitsarchitekturen schwierig ist. Das neue Arbeiten wird in starkem Maße heterogen sein, sich unter den Vorzeichen von Branchen und Geschäftsmodellen herausbilden – getreu dem Grundsatz: Form follows function.