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Ralph Bruder,
Professor für
Arbeitswissenschaft,
Technische Universität
Darmstadt
Das neue Normal
Der starke Impuls, ausgelöst durch
die Corona-bedingten Einschränkungen
in Richtung einer Digitalisierung
von Abläufen, wird Arbeit nachhaltig
verändern. So wird in vielen Unternehmen
und Institutionen zukünftig
die Frage zu beantworten sein, warum
nicht – wie schon während Corona
geübt – auch weiterhin von zu
Hause gearbeitet werden kann. Prozesse
wurden komplett umgestellt
und Organisationen werden nicht
wieder zu einem vorherigen Zustand
zurückkehren wollen. Damit die aktuell
gelebte Agilität auch nachhaltig
Bestand hat, spielt die Beachtung
menschbezogener Bedürfnisse eine
entscheidende Rolle. Dies betrifft die
nur zu verständliche Forderung nach
Christof Otte,
Sportwissenschaftler und
Schmerztherapeut
Den Blick weiten
Wenn ich an die Arbeitswelt von
morgen denke, sehe ich Bewegung.
Bewegung ist das Allheilmittel und
die einzige Prävention gegen Bewegungsmangel.
Das Organ, das wie
kein anderes auf Bewegung angewiesen
ist, ist unser Gehirn. Es benötigt
Informationen aus unserem Bewegungsapparat,
um den gesamten
Organismus zu koordinieren. Dabei
interagieren Gehirnbereiche in komplexen
Netzwerken. So ist die Motorik
unserer Augen für koordinierte
Körperbewegungen mitverantwortlich.
Immer wieder beobachte ich in
meiner Praxis, dass Menschen mit
zum Beispiel Nackenverspannungen
eine gestörte Koordination ihrer Augenbewegungen
haben. Das Problem
tritt insbesondere bei Menschen
an Bildschirmarbeitsplätzen auf,
da hierbei der Blick überwiegend in
die Nähe gerichtet ist. Was fehlt, ist
der Blick in die Ferne, den unsere
körperlich tätigen Vorfahren in der
freien Natur den ganzen Tag hatten.
Die ständige Anspannung der Augenmuskeln
für das Fokussieren der
Nähe stimuliert durch die Verschaltungen
im Hirnstammbereich unsere
Rumpfmuskulatur einseitig und verspannt
unsere Muskeln, insbesondere
im Nacken. Wenn ich an das neue
Arbeiten denke, sehe ich große Bildschirme,
die deutlich weiter entfernt
vom Auge als heute platziert sind
und mit einer entsprechenden bewegungsverführenden
und bedarfsgerechten
Arbeitsumgebung größere
Augen- und Kopfbewegungen zum
Wohle unseres Gehirns zulassen.
einer Technik, die zu einer wirklichen
Vereinfachung von Abläufen und
eben nicht zu einer Anpassung von
gut funktionierenden Abläufen an
technische Unzulänglichkeiten führt.
Es betrifft ganz besonders die Förderung
der Eigenverantwortung von Beschäftigten.
Eine von allen Beteiligten
gewollte und dann auch entsprechend
geschulte Eigenverantwortung ist
beispielsweise die Voraussetzung für
erfolgreiches Arbeiten von zu Hause.
Schließlich sollte eine weitere Corona-Erfahrung
nicht zu schnell wieder
vergessen werden. Der direkte, nicht
durch Technik vermittelte Kontakt
zwischen Menschen ist wertvoll für
das Wohlbefinden, aber auch für den
wirtschaftlichen Erfolg. Zukünftige
Arbeit misst den zwischenmenschlichen
Kontakten daher eine hohe, zu
schützende Bedeutung zu.
45%
Arbeitsatmosphäre
21%
UNTER STRESS Diese Faktoren erschweren uns das Arbeiten
Dauerhafte
Erreichbarkeit
Tiemo Kracht,
Gründer und
Geschäftsführer
BOARD CONNECT GmbH
Form folgt Funktion
Die Debatte über die Arbeitsstrukturen
der Zukunft wird in Deutschland
oft aus einem einseitigen Betrachtungswinkel
geführt. Das neue Arbeiten
wird durch Buzzwords wie Open
Space, Kreativräume, Agiles Führen,
Office Sharing oder Homeoffice unterlegt
und klammert nicht selten
31%
New Work braucht
auch New Leadership
Große
Aufgabenmenge
46%
Zeitdruck
Kerstin Sarah von Appen,
Organisationsentwicklerin
und
New-Work-Autorin
32%
Leistungsdruck
21%
Angst um
Arbeitsplatz
Umfrage unter 2.027 Personen in Deutschland, Juni 2019; bis zu drei Antworten waren pro Person möglich
Quellen: SwissLife, YouGov
DIES IST EINE GESPONSERTE ANTWORT, ALSO EINE ANZEIGE
Produktionsunternehmen mit einem
hohen Anteil gewerblicher Fachkräfte
aus. Insofern bleiben auch die künftigen
Unternehmenswelten bunt. Weder
die gegen die menschliche Natur
wirkenden Großraumbüros noch die
„Creative Spaces“ à la Google werden
allein das Arbeitsleben prägen. Auch
werden die Menschen sich nicht in
Scharen ins Homeoffice flüchten.
Diverse Arbeitsformen können im
Wirtschaftsgeschehen koexistieren.
Die Arbeit und das Unternehmen
sind und bleiben für die Menschen
ein wichtiger sozialer Bezugsrahmen,
in dem sie produktiv sein und in ihrem
Teambezug Anerkennung finden
Ein neues Führungsverständnis ist
gefragt, um neue Konzepte des Arbeitens
zu ermöglichen und den Begriff
New Work mit Leben zu füllen.
Gerade in einer Zeit wie dieser, so
dynamisch und unsicher, müssen
Führungskräfte noch stärker als bislang
eine orientierende Rolle wahrnehmen.
Sie müssen Sinn, Vision
und Werte vermitteln, Vertrauen
schaffen und gemeinsames Vorankommen
fördern. Balancierte Selbstführung,
innere Stabilität und Reflexionsfähigkeit
sind dabei essenzielle
Führungsfähigkeiten, um das Beste
in Organisationen zu entfalten. Die
Haltung von Führungskräften beeinflusst
maßgeblich die Unternehmenskultur.
Eine gelebte Vertrauenskultur
ist das Fundament, um all
das, was für eine neue Arbeitswelt
gerade diskutiert wird, zum Klingen
zu bringen: Umgehen mit Veränderungen,
Zusammenarbeit über
Bereichsgrenzen hinweg, Selbstverantwortung.
Führungskräfte sollten
immer mehr zu Ermöglichern werden
und von Kontrolle auf Empowerment
umschalten – mit einer empathischen,
coachenden Haltung auf
Augenhöhe. Das heißt keinesfalls,
dass Führung überflüssig wird. Führungskräfte
tragen nach wie vor die
Verantwortung für die Formulierung
von Zielen, Strategien und Ergebnissen,
müssen jedoch Autonomie
zulassen und zunehmend Kontrolle
über die Umsetzung abgeben. Für
alle New-Work-Ansätze gilt: Es bedarf
der ehrlichen Bereitschaft der
Führungsebene, sich auf neue Wege
einzulassen – und des gegenseitigen
Vertrauens, diese Wege zu gehen.
Illa Lauterbach, Leserin
Austausch gesucht
Mit der Corona-Krise wurden viele
von der Digitalisierung überflutet
wie eine Straße vom Hochwasser. Es
brauchte Zeit, bis sich eine vernünftig
geplante Routine einstellen konnte.
Die digitale Form der Arbeitskommunikation
ist jedoch eine sehr verdichtete
Art des Austauschs. Es müssten
Kommunikationsformen entwickelt
werden, die das beiläufige soziale
Zusammensein ermöglichen. Austausche,
irgendwo zwischen Smalltalk
und Fachgespräch, schaffen die Verbindungen,
die Vertrauen und Kreativität
fördern. Mediale Lösungen
können die physische Präsenz nicht
kopieren, vielleicht aber eine Zeit lang
ersetzen, wenn die Kommunikationspartner
in der Lage sind, eine sich neu
bildende Körper- und Zeichensprache
im digitalen Raum zu entwickeln.
wollen. Diese arbeitsbezogene Wertschätzung
setzt auch bei noch so agiler
Führung Nähe und Begegnung
voraus, die nicht dauerhaft digitalisiert
werden kann. Menschen suchen
mehrheitlich auch ein berufliches Zuhause,
streben aber nach mehr Flexibilität
in der Arbeitsstruktur. Sie wollen
konzentriert und wertschöpfend
arbeiten können, was auch nach Meinung
der Wissenschaft in offenen Arbeitsarchitekturen
schwierig ist. Das
neue Arbeiten wird in starkem Maße
heterogen sein, sich unter den Vorzeichen
von Branchen und Geschäftsmodellen
herausbilden – getreu dem
Grundsatz: Form follows function.