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Dominik A . Ewald , Landesvorsitzender Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte ( BVKJ ) Bayern
Gebt uns die Mittel
Sophie war schon als Neugeborenes sehr klein . Zunächst entwickelte sie sich ihrem Alter entsprechend , blieb jedoch auffällig klein . Die Mutter begann im Internet zu recherchieren und fand Bilder von Kindern , die so aussahen wie Sophie . Bald vermutete sie dahinter eine seltene Krankheit , das
Silver-Russell-Syndrom ( SRS ). Sophie wurde einem Kinderneurologen und einem Humangenetiker vorgestellt , die die Diagnose bestätigten . Ein bis drei von 100.000 Neugeborenen können mit SRS auf die Welt kommen . Wir Kinder- und Jugendärzte sehen diese seltene Krankheit nur ein- oder zweimal in unserem Berufsleben . Dafür ausgebildet zu sein und im richtigen Moment daran zu denken , ist der entscheidende Punkt . Wir können gut seltene Erkrankungen im Zusammenspiel mit Experten in Kliniken und Spezialambulanzen identifizieren und behandeln . In unserem Gesundheitssystem durchlaufen die betroffenen
AKTIV DABEI Betroffene sind ein wichtiger Teil der Forschung
Top drei der Hindernisse bei der Erforschung seltener Erkrankungen
Mangel an öffentlichen Mitteln
Mangel an privater Finanzierung
Kleine Patientenpopulation
An welcher Art von Forschung nehmen Patienten teil ?
der Patienten mit seltenen Erkrankungen haben an medizinischer Forschung teilgenommen , darunter :

59 %

1 / 3

an der Entwicklung von Behandlungen und Therapien
1
2
3
Therapie entwickeln
Diagnose verbessern
Top drei der Prioritäten von Patienten
Mechanismen und Ursachen seltener Krankheiten identifizieren
Was ist Patienten wichtig ?
Erhalt klarer Informationen zum Forschungsprojekt
Gute Beziehung zu den Forschern
Kinder jedoch oft eine langen Odyssee von Arzt zu Arzt . Dabei bietet die Humangenetik heute viele Möglichkeiten . Künstliche Intelligenz und Krankheitsregister sollten uns zusätzliche Werkzeuge an die Hand geben , um Seltenes schneller zu erkennen . Stattdessen blockieren ein teilweise überzogener Datenschutz sowie unzureichende EDV- Strukturen im Gesundheitswesen die schnelle und präzise Kommunikation . Die Förderung von Forschungspraxis- Netzwerken und eine Akademisierung der ambulanten Pädiatrie müssen uns diese Kinder und deren Eltern aber wert sein .
Christian Kratz , Direktor Kinderonkologie und Leiter Zentrum für Seltene Erkrankungen , Medizinische Hochschule Hannover
Durchs Raster gefallen
Zellen , die im Begriff sind , zu entarten , aktivieren das Gen TP53 , das die Zellen entweder korrigiert oder abtötet . Menschen mit Li-Fraumeni Syndrom ( LFS ) haben einen TP53- Defekt . Konsequenz ist ein massiv erhöhtes Krebsrisiko . LFS-Patienten leben länger , wenn sie regelmäßig auf das Vorliegen von Krebserkrankungen untersucht werden . Dies erhöht die Chance , eine Krebserkrankung so früh zu diagnostizieren , dass eine Heilung erzielt werden kann . Hauptuntersuchung ist die Ganzkörperkernspintomografie . Die TP53- Testung wird von den Krankenkassen aufgrund der medizinischen Konsequenzen bezahlt . Trotz des Überlebensvorteils durch Früherkennung sind Krankenkassen nicht verpflichtet , diese zu finanzieren . Daher wird die Kostenübernahme der Ganzkörperkernspintomografie
Rainer Wieckhorst , Leser
Verstecktes Leiden
Zu Depressionen , Angststörungen und Burnout-Syndrom besteht eine hohe Aufmerksamkeit . Wenig Beachtung finden leider die Anpassungsstörungen . Bei der diagnostischen Abgrenzung besteht eine Grauzone zur Burnout- Erkrankung . Denn bei der Anpassungsstörung können die gleichen Merkmale auftreten . Sie sind nur psychogenen Ursprungs , also in der Entwicklungsgeschichte des Patienten zu finden und sollten idealerweise psychoanalytisch aufgedeckt werden . Ein aktuelles Erlebnis löst die Erkrankung aus und blockiert Lösungsstrategien . Der betroffene Patient kann selbst die verdeckten Ursachen nicht identifizieren . In der psychoanalytischen Aufdeckung ist häufig ein falsches Lernverhalten sowie fehlendes oder falsches Kommunikationsverhalten festzustellen . Das impliziert auch die Kommunikation mit sich selbst . Eine Anpassungsstörung lässt sich psychotherapeutisch ohne Medikation gut behandeln – wenn man sie entdeckt .
meist abgelehnt . Als Kinderonkologe und Wissenschaftler setzte ich mich für LFS-Patienten und ihre Familien ein . Ich koordiniere Forschungsprojekte , die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und von der Kinderkrebsstiftung finanziert werden ( krebs-praedisposition . de ). Gemeinsam mit einer Mutter , die ihren Sohn an den Folgen des LFS verloren hat , wurde eine international vernetzte Patientenorganisation gegründet , die LFSA ( lfsa-deutschland . de ). Patienten mit der Diagnose LFS ohne die Möglichkeit der Inanspruchnahme notwendiger medizinischer Maßnahmen sind hilflos . Sie fallen durch das Raster eines reichen Gesundheitssystems .

52 %

16 %
Rainer Claß , Leser
an der Forschung zum Thema Lebensqualität
Blinde Flecken
an der Entwicklung genetischer Therapien
Umfrage unter 3.213 Personen mit seltener Erkrankung und deren Angehörigen aus 42 Ländern ; August-November 2017
Mir fallen sofort zwei Krankheiten ein , die nach meiner Meinung stark verwaist sind , obwohl sie nicht selten auftreten . Bei den chronischen Krankheiten möchte ich die Gicht nennen . Jetzt wird sicher sofort angeführt , dass man das ja kenne und im Griff habe . Genau das aber bezweifle ich . Nach meiner Erfahrung wird regelmäßig der nächste Gichtanfall abgewartet , der dann auch meist erfolgreich behandelt wird , aber eben nicht nachhaltig . Die chronischen Folgeschäden wie Nierenschädigungen , die übrigens durch die medika-
Teilnahme an der Forschung , um der Wissenschaft und der Gemeinschaft zu helfen
Quelle : EURORDIS
mentöse Akutbehandlung verstärkt werden , sowie Gelenkschäden werden dann als altersgemäßer Verschleiß hingestellt . Weitere Schädigungen an theoretisch allen Organen sind möglich , aber bisher gibt es dazu kaum Forschungsergebnisse . Bei den akuten Erkrankungen wird die Sepsis stark unterschätzt und in sehr vielen Fällen zu spät als lebensbedrohlich erkannt und deshalb eine adäquate Therapie , die es tatsächlich nahezu überall gibt , zu spät eingeleitet . Bei beiden Beispielen handelt es sich also um wohlbekannte Erkrankungen , die aufgrund dieser Tatsache aber falsch , inadäquat oder zu spät behandelt werden – mit , ich würde sagen , katastrophalen Folgen für die Betroffenen .
Verena Müller , Fotografin
Die Leichtigkeit in Zeiten der Schwere
Mich berührt und beeindruckt , wie Familien durch das zentrale Thema einer Seltenen Erkrankung zusammenwachsen , wie bewusst sie damit umgehen und wie viel Liebe mitschwingt . Bei einer Auftragsarbeit an der Medizinischen Hochschule Hannover kam ich zum ersten Mal mit diesem Thema in Kontakt . Bis dahin kannte ich Familien , in denen Krankheit eine so große Rolle spielt , nicht . Ich habe gesehen , wie schwer es ist , Schmerzen auszuhalten , Hoffnung auf Linderung oder Heilung zu haben . Jahrelanges Suchen und Warten bis
zur Diagnose . Ich habe zwei Kinder mit ganz unterschiedlichen Erkrankungen fotografiert . Felix hat das Wiskott-Aldrich-Syndrom und Josephine das Williams-Beuren-Syndrom . Felix hätte ohne Behandlung eine sehr verkürzte Lebenserwartung . Mich hat bewegt , wie er kämpft , um dann wieder ins kindliche Spiel zu versinken . Verstecken im Krankenhauszimmer war bei seiner Behandlung eines seiner Lieblingsspiele . Josi hat eine geistige Beeinträchtigung , ein schwaches Herz – und einen ganz eigenen Blick auf das Leben . Sie ist sehr musikalisch und emotional , typisch für die Diagnose . Josi ist immer noch sehr empfindsam , wie sie es schon als Kind war : Sie hat Furcht vor lauten Geräuschen , sogar vor dem Surren der Strommasten . Bei einem meiner Besuche hat sie in ihrem Garten eine Rose behutsam abgeschnitten , für einen Jungen aus ihrer Schule . Nur die Blüte , ohne Blumenstiel , mit viel Liebe und Vorfreude aufs Überreichen am nächsten Tag .