+3 Magazin Februar 2021 | Page 14

14
+ 2
Jürgen R . Schäfer , Leiter Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen ( ZusE ), Universitätsklinikum Marburg
Innovation für alle
Menschen , die an einer seltenen Erkrankung leiden , haben es schwer . Oftmals dauert es Jahre , bis überhaupt eine Diagnose gestellt werden kann und bei den meisten seltenen Erkrankungen existiert keine befriedigende Therapie . Um diese insgesamt unbefriedigende Situation zu verbessern , engagieren sich neben Medizinern und Wissenschaftlern auch Organisationen wie die ACHSE und die Eva Luise und Horst Köhler Stiftung . Leider wird von der forschenden Pharmaindustrie oftmals vergessen , dass es nicht nur unsere ethische Pflicht ist , sich um die Seltenen zu kümmern . Das Potenzial , das seltene Erkrankungen auch für die häufigen Erkrankungen in sich tragen , wird oftmals nicht erkannt . Dabei wurden zahlreiche Medikamente nur deshalb entdeckt , weil uns die Seltenen auf die Wirkmechanismen hingewiesen haben , wie etwa bei den PCSK9-Inhibitoren . Mehr noch : Die Notwendigkeit bei den Seltenen , extrem große und komplexe Datenbanken zu bearbeiten , stimuliert die Bioinformatik und zeigt die Bedeutung von Big Data . Aber auch neuartige Therapiestrategien , wie der Einsatz von mRNA-Technologien , verdan-
Babys / Kleinkinder
Louisa Musehold , Leserin
Das geht besser
Die wichtigsten Förderer von Forschungsprojekten
27 % Bundesministerium für Bildung und Forschung
6,9 % Europäische Union
Verteilung nach Altersgruppen
33 % 29 % 39 %
Kinder / Jugendliche
Ich glaube , wer an einer seltenen Erkrankung leidet , hat es mehr oder weniger doppelt schwer . Nicht nur bekommen diese wenig Aufmerksamkeit und somit wenig Forschung zugute geschrieben , gleichzeitig zeigt unser Gesundheitssystem auch Tendenzen einer Zwei-Klassen-Gesellschaft . Denn oftmals müssen vor allem hier teure Medikamente und Behandlungen selbst gezahlt werden , da viele nicht von den Kassen übernommen werden . Zumindest wird dieses Bild in der breiten Öffentlichkeit gezeigt . Ich hetze nicht gegen unser Gesundheitssystem , denn wir haben es hier wesentlich besser als in vielen anderen Ländern , aber natürlich gibt es auch hier immer Verbesserungspotenzial und Dinge , die alles andere als gut laufen . Hier stellt sich mir oft die Frage : Was wiegt mehr ? Das Leben der Menschen oder der schnöde Mammon ? Manchmal bin ich mir einfach nicht sicher .
Deutsche 36 % Forschungsgemeinschaft
Erwachsene
ken wir oftmals Forschenden , die damit primär seltene Erkrankungen heilen wollten – bei mRNA war es die Mukoviszidose , ein anderes Beispiel sind personalisierte Tumortherapien . So gesehen sind die Seltenen wichtige Innovationstreiber auch für die Häufigen und sollten die entsprechende Wertschätzung und Unterstützung bekommen .
IM FOKUS Drei Fakten zur deutschen Forschungslandschaft
25 % Stiftungen
3,7 % Industrie
Die zwei am häufigsten erforschten Krankheitsgruppen
Seltene Krebserkrankungen
Seltene genetische
Erkrankungen Nervensystem | Augen | Embryonalentwicklung
47 %
45 %
Als Grundlage dienten 1.003 Forschungsvorhaben aus dem Jahr 2013 ; bei den Altersgruppen : Abweichung von 100 Prozent durch Rundung
Quelle : IGES Institut
ORPHAN DRUGS Medikamente gegen die seltensten unter den Seltenen
gegen Muskel- / Skelett-Erkrankungen
gegen Augenkrankheiten
gegen Infektionskrankheiten
gegen neurologische Erkrankungen
gegen Atemwegserkrankungen *
gegen Herz-Kreislauf-Krankheiten
gegen Blutgerinnungsstörungen
7
4
4
8
10
9
6
gegen Stoffwechselerkrankungen
45
gegen Krebserkrankungen
gegen sonstige Krankheiten
10
* ohne Krebs- und Infektionskrankheiten
Zulassungen , die unter die Orphan-Drug- Verordnung der EU von 2000 fallen oder fielen , ohne Generika ; Stand : 2 . Januar 2019
Thomas Schröder , Leser
Kräfte bündeln
85
Quelle : vfa
Die Frage nach Waisen der Medizin lässt einen zu der Erkenntnis kommen , dass wir zurzeit alles sind , aber keine Waisen der Medizin . Ich meine die Covid-19-Pandemie , die sich so wie noch nie eine andere Krankheit in der Neuzeit in das Leben aller Menschen dieses Planeten gedrängt hat . Jeder Einzelne muss seinen Alltag umstellen und auf vieles verzichten . Vor allem sind viele Menschen krank geworden , nicht wenige kämpfen mit den Spätfolgen , die sie noch lange beeinträchtigen werden und deren Ursachen noch nicht wirklich bekannt sind . Zu viele haben die Infektion nicht überlebt . Politik , Wirtschaft und Gesellschaft versuchen mit allen Mitteln , in dieser Situation Lösungen zu finden . Dabei werden Fehler gemacht und Sackgassen angesteuert . Aber
Suzanne Krenzer , Leserin
Kombinierte Weisheit
Seltsame Frage . Angesichts tausender Krankheiten interessiert Sie , welche vernachlässigt werden ? Mir kommt da eher in den Sinn , danach zu fragen , welche diagnostischen Waisen der Medizin verhindern , Krankheiten überhaupt zu erkennen . Eine Weisheit sagt : Das Häufige ist häufig , das Seltene ist selten . Dahingehend ist eine Anamnese aufzubauen . Doch nicht jeder Arzt ist weise genug , die Waisen zu filtern . In unserer heutigen Zeit schon gar nicht ohne diagnostische Apparatur . Ein auf Gewinn gepoltes Gesundheitssystem bewertet Labor , MRT , CT und so weiter höher als eine Begegnung zwischen Arzt und Patient mit Zeit für Gespräch und physisch direkter Diagnostik von Auge , Hand und Gespür . Der Mensch ist eben mehr als die Summe seiner Zellen . Die traditionelle chinesische Medizin ( TCM ) weiß da mit Weisheit auch die Lebensenergie , die spirituellen Anteile des Gegenübers sowie dessen Bereitschaft zur Genesung zu sehen und in die Therapie mit einzubinden . In unserer Schulmedizin suggerieren die diagnostisch technischen Apparaturen leider leicht Allmachtsfantasien , die am Ende sogar einen würdevollen Tod ausblenden wollen . Dennoch gilt es festzuhalten : Erst eine weise Kombination von unserer Schulmedizin und TCM wäre definitiv zielführend , um auch die Waisen im Heer der Krankheiten zu diagnostizieren und zu therapieren . Egal , wie man die dann nennt .
dieses gemeinsame Handeln in einer Situation , von der alle gleichsam betroffen sind , schafft auch ein Gemeinschaftsgefühl und lässt einen wissen , dass man in dieser so oft durchindividualisierten Welt eben doch nicht allein und verwaist ist . Ich wünsche mir , dass wir nach der überstandenen Pandemie dieses Gemeinschaftsgefühl beibehalten und damit anderen Problemen mutig entgegentreten – wie den seltenen Krankheiten .
Lorenz Grigull , Leiter Sektion Kinder , Zentrum für Seltene Erkrankungen Bonn ( ZSEB ), Universitätsklinikum Bonn
Helfer in der Not
Familien mit einem kranken Kind und der Diagnose einer seltenen Erkrankung sind besonderen Belastungen ausgesetzt , vor der Diagnosestellung und auch danach . Am Zentrum für seltene Erkrankungen in Bonn ( ZSEB ) gibt es seit Juli 2020 dank der Unterstützung der ETL-Stiftung
Kinderträume eine Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche ohne Diagnose . Gemeinsam mit dem Team des ZSEB und Studierenden der Medizin der Universität Bonn versuche ich , bei unklaren Symptomen den Weg zur Diagnose zu verkürzen . Hierbei setzen wir neben „ Altbewährtem “, wie der ausführlichen Anamnese und gründlichen körperlichen Untersuchung , auch auf moderne Technologie : Verfahren aus dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz werden am ZSEB entwickelt , erprobt und auch praktisch eingesetzt , um Muster zu erkennen , die auf eine seltene Erkrankung hindeuten . Regelmäßige
Fallkonferenzen , der interdisziplinäre Dialog , die studentische Recherche und der kollegiale Austausch mit den behandelnden Kinderärztinnen und Kinderärzten hat schon mancher Familie helfen können . Und : Da bei langer Krankheitsdauer regelmäßig auch die Seele krank wird und psychosomatische Erkrankungen eine wichtige Rolle spielen , arbeitet im Team des ZSEB auch eine Fachärztin für Psychosomatik . Menschen mit seltener Erkrankung und vor allem Menschen ohne Diagnose fallen leicht durch unser Versorgungsnetz . Das ZSEB will hierfür mit neuen Ideen Helfer in der Not sein .
Kevin Steinert , Leser
Viele Fragen
Wer sind die Menschen dahinter ? Wie viele Kinder leiden bereits an seltenen Krankheiten ? Leiden diese mehr als Menschen , die an „ normalen “ Krankheiten leiden ? Ich weiß es nicht , aber es würde mich sehr interessieren . Wie lange dauert es , bis die richtige Diagnose gestellt wird , wenn niemand danach sucht , weil die Krankheit zu selten ist ? Wie ist das , ewig mit der falschen Diagnose leben zu müssen ? Fragen über Fragen .