+3 Magazin Dezember 2022 | Page 16

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WIR FRAGEN :

WIE GENUSSVOLL WOLLEN WIR LEBEN ?

Der Adventskranz wurde 1839 von Johann Hinrich Wichern erfunden – mit 19 kleinen und vier großen Kerzen , von denen jeweils eine pro Tag bis Heiligabend angezündet wurde .
Quelle : uniturm . de © iStock ./ RomanBabakin
Haya Molcho , Köchin und Gastronomin
Nimm dir Zeit
Genuss habe ich meinen Kindern von kleinauf beigebracht . Schon Babys können ja vermitteln , was ihnen schmeckt und wie viel sie essen wollen . Eltern sollten ein Genug respektieren . Essen ist zwar ein Muss , sollte sich aber nicht wie ein Muss anfühlen – mehr wie eine Meditation . Denn oft essen wir hastig oder nebenbei . Dabei gibt es ohne Zeit keinen wahren Genuss . Wie wichtig es ist , im Moment zu leben , zeigt eine Anekdote des Zen- Buddhismus . Auf die Frage der Schüler , warum der Zen-Meister immer so zufrieden und glücklich ist , antwortet dieser : „ Wenn ich gehe , dann gehe ich ,
wenn ich sitze , dann sitze ich , wenn ich esse , dann esse ich , wenn ich liebe , dann liebe ich .“ Genießen hat auch mit dem Spielen der Geschmackssinne zu tun . Als meine vier Söhne noch klein waren , habe ich immer Wert auf eine abwechslungsreiche Weltküche gelegt . Es gibt nichts Schlimmeres , als in einem neuen Land nur die Gerichte zu essen , die man von zu Hause kennt . Das ist nicht nur respektlos der neuen Kultur gegenüber , sondern lässt auch kein Interesse an Neuem zu . Meine Söhne habe ich oft gefragt , was sie aus dem Essen herausschmecken können . Nur wer dafür einen Sinn entwickelt , kann beim Kochen experimentieren . Das geht meiner Meinung nach besonders gut mit der Levantinischen Küche , die so bunt und gesund ist . Apropos gesund : Ich wünsche mir , dass Kantinenessen in Schulen oder Spitälern abwechslungsreicher und gesünder wird . Gerade Erkrankten würde das guttun .
Michael Brauer , Leiter Forschungsbereich Gastrosophie und Food Studies , Universität Salzburg
Kleine Freuden des Alltags
Darf man heute überhaupt genießen – angesichts des Ukraine-Kriegs , der Energiekrise und des Klimawandels , der aus der Verschleuderung natürlicher Ressourcen resultiert ? Ist Genuss da nicht etwas absolut Egoistisches ? Mit Fragen wie diesen hadern zurzeit sicher viele Menschen . Ein Blick auf die Ernährungsgeschichte zeigt allerdings , dass es neben dem verschwenderischen Genuss auch einen Alltagsgenuss gibt , dem eine wichtige Funktion zukommt : Essen und Trinken sind menschliche
Grundbedürfnisse , aber schon immer haben Menschen versucht , das Notwendige mit dem Angenehmen zu verbinden . So kann man durch Gewürze Akzente setzen und durch Kombination von Lebensmitteln neue Geschmacksrichtungen erfinden . Im Zusammenklang von sensorischen Reizen und Reflexion entsteht dann der Genuss – eine menschliche Kulturleistung . Das gilt nicht nur für die Mächtigen aus früheren Zeiten , die sich die besten Lebensmittel und teure , importierte Gewürze leisten konnten , sondern auch für die einfachen Leute . Denn in der heimischen Natur fanden sich Wurzeln und Kräuter , die die eintönige Alltagskost abwechslungsreicher machten . Man kann daraus lernen , dass man sich Genuss nicht nur über Luxusgüter erkaufen , sondern auch über kleine Dinge verschaffen kann . Um dann gestärkt , offen und ohne schlechtes Gewissen in den Alltag zu gehen .