+3 Magazin Dezember 2021 | Page 16

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WIR FRAGEN :

WORAN ERKENNT MAN GENUSS ?

Die japanischen Melonensorten Yubari King und Densake gehören zu den teuersten und seltensten Früchten der Welt . Quelle : stern . de
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Dieter Meier , Konzeptkünstler , Musiker und Schokolade-Produzent
Lebenslange Aufgabe
Genuss ist ein sehr weites Feld . Es reicht vom süchtigen Golfspiel , dem einzig Zen-buddhistischen Vorgang , den der Westen erfunden hat , bis hin zu sorgfältig gedünsteten Karotten . Großen Wert lege ich auf Natürlichkeit beim Kochen . Echter Genuss ist nichts Oberflächliches , sondern ein allmähliches Verstehen der verschiedenen Aromen . Genuss ist aber auch ein Geheimnis , das man pflegt , vertieft und dem man ein Leben lang näherkommt : Genuss ist Arbeit , beim Betrachten eines Bildes von Rembrandt , dem Lesen eines Textes von Robert Walser oder dem Sich-
Ausliefern eines Streichquartetts von Beethoven . Doch auch der scheinbar profane Genuss von Wein oder einer gut gelagerten Zigarre eröffnet sich erst allmählich , wenn er geliebt ist . Genuss ist aber auch das sich mühsame Herantasten an einen Philosophen , den man als Dilettant , der ich bin , ein ganzes Leben lang nie verstehen wird . Der größte Genuss ist das Sich-Fallenlassen in das Nichts unseres verrückten Planeten . Die Welt ist eine Wundertüte , die mich lebenslang verzaubert , die ich aber nie nach Hause tragen kann , auch wenn ich mir manchmal einbilde , den Irrsinn auf unserer Welt zu verstehen . Tatsächlich bin ich nur ein Zufall : Nur für Sekunden heiß ich Dieter und freue mich als Untermieter , hier auf unserem Kleinplaneten fröhlich eine Spur zu treten , auf die ich weiter gar nichts gebe , weil ich sonst nur an ihr klebe – was auf keine Weise dem wahren Genuss entgegenkäme .
Tony Wheeler , Gründer Lonely Planet
Einfach nur wow
Die Abflughalle eines Flughafens ist für mich immer wie ein Tor zum Genuss – denn hier zu sein bedeutet , dass ich mich irgendwohin aufmache . Dort angekommen , freue ich mich jedes Mal auf die Wow-Momente , eben darauf , Dinge zu sehen , die einen in Erstaunen versetzen . Zum Beispiel an einem Morgen im Himalaya die Zeltklappe zu öffnen und zu entdecken , dass es bis zum Horizont nur schneebedeckte Gipfel gibt , die am Abend noch von dichten Wolken verhüllt waren . Oder hinauf zum Kraterrand des Vulkans Nyiragongo in der Demokratischen Republik Kongo zu klettern , der zischt und
Lava spuckt . Auch das Tauchen am Durchlass eines Atolls in Polynesien ist so ein Wow-Moment . Man schaut nach oben und bemerkt eine Gruppe Haie über sich , die darauf warten , dass ihnen herausschwimmende Fische in die offenen Mäuler geschwemmt werden . In der Nähe meines Wohnortes in Australien gibt es am Ufer eines Flusses eine riesige Kolonie Flughunde . Jeden Tag bei Sonnenuntergang gehen sie auf Nahrungssuche . Eines Abends bei einem Spaziergang verdunkelte sich plötzlich über mir der Himmel – er war übersäht von Flughunden . Was kann man da anders sagen als : wow . Solche Wow-Momente findet man nicht nur in der Natur , sie können auch menschengemacht sein . Sie finden sie , wenn sie auf die Skyline von Manhattan schauen , ihren Blick über das blaue Häusermeer von Jodhpur in Indien schweifen lassen – oder auf einer der vielen Brücken über die Kanäle von Venedig stehen .