+3 Magazin Dezember 2020 | Page 10

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WIR FRAGEN :

WIE WIRD GENUSS

ZUR KULTUR ?

© iStock ./ skynesher
Ente à l ’ Orange gilt zwar als französisches Nationalgericht , erfunden wurde der ausgefallene Braten aber wohl in Neapel – ein Gedicht mit dem Namen des Gerichts erzählt die Geschichte dazu . Quelle : Wikipedia
Wolfgang Loggen , Leser
Gereifter Zeitgeist
Kurz vor Weihnachten schlage ich erinnernd einen Genussbogen , wie ich seit den 1950er-Jahren das elterliche Weihnachtsessen erlebt habe : Auf Kartoffelsalat mit Würstchen folgten später Hühnerfrikassee mit Reis , dann Kaninchen und schließlich Lachs in den 1970ern . Ich habe dies als Kind und Jugendlicher genossen , zumal der Esstisch immer festlich gedeckt war . Das war – aus heutiger Sicht – für mich Kultur . Wenn ich später – wie noch im letzten Sommer – zum Beispiel an einem einfachen Tisch mit Blick aufs Meer in Südfrankreich sitze und fangfrische
Austern mit Zitrone und einem Glas Chablis genieße , ist das für mich heute ebenfalls gelebte Kultur . Das war mal anders : Für die Römer war es trotz ihrer hochstehenden Kultur normal , dem Wein konservierende Bleisalze beizumischen . Meine Eltern liebten süßen Moselwein und tranken ihn mit Genuss und kultiviert . Bei meinen ersten Aufenthalten in Frankreich mochte ich noch Cassoulet – heute kann ich dieses Essen bestenfalls noch akademisch zur Genusskultur zählen . Die Entwicklung vom Genuss zur Kultur lässt sich für mich nicht in bestimmte Standards zwängen , sondern resultiert aus meiner aktuell positiven Lebensgestaltung und meinem Lebensgefühl . Genuss hängt dabei mit dem Zeitgeist einer bestimmten Epoche zusammen und reift in ihr zur Kultur . Wie recht hat doch der Talmud : „ Wir sehen die Dinge nicht so , wie sie sind ; wir sehen sie so , wie wir sind .“
Eckart Witzigmann , Sterne-Koch
Liebe zum Produkt
Um Vorurteilen den Schwung zu nehmen und elitärem Protz den Boden zu entziehen : Mit Geld hat das nichts zu tun . Um beim Essen Genuss als Kultur zu empfinden , sollte man mit sich selbst im Reinen sein , unempfänglich für Lautsprecher aller Art durchs Leben gehen und fest in seinen Abneigungen und Vorlieben sein . Der Genuss beginnt ja bereits bei der Vorfreude auf das , was ich gerne esse , schmecke und rieche , losgelöst von Moden oder digitalen Geschmackspriestern . Wer Kaviar oder Austern braucht , bitte , jeder kann bei dieser Expedition in den eigenen Kosmos
seine Vorlieben ausleben . Ich glaube von jeher – auch wenn drei Michelin- Sterne da eher dagegen ankochen – dass der wahre Genuss und die damit verbundene Freude in der Schlichtheit liegen . Schlichtheit von höchster Qualität kann ebenso ergreifend sein wie eine Wagner-Oper oder Mozart-Messe . Zugegeben , es bedarf einer kräftigen Portion Demut für diese Einsicht , aber jeder , der sie erlangt hat , wird mir zustimmen . Als ich zur Jahrtausendwende nach den Parametern für die Zukunft gefragt wurde , antwortete ich , ohne lange nachzudenken : den Produzenten seiner Lebensmittel persönlich zu kennen . Das glaube ich heute mehr denn je . Mein Respekt vor Menschen , die mit Herzblut und viel Engagement unsere Lebensmittel herstellen , wächst und wächst . Die Produkte , die daraus resultieren – sei es Brot , Butter , Gemüse oder Wein – können von schlichter , erhabener Schönheit sein . Da beginnt der wahre Luxus .