+3 Magazin April 2022 | Page 4

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WIR FRAGEN :

WIE WOLLEN WIR WOHNEN ?

In Berlin stehen durchschnittlich 80 Bäume an jedem Kilometer Stadtstraße .
Quelle : berlin . de © iStock / lechatnoir
Daniel Libeskind , Architekt und Stadtplaner
Poetisch leben
Zunächst einmal sind Freiheit und Frieden entscheidende Grundvoraussetzungen – das gilt genauso für unser unmittelbares Umfeld wie für die Welt als Ganzes . Dazu muss man sich immer wieder klarmachen , dass ein Leben in Freiheit nichts ist , was einem einfach so geschenkt wird . Vielmehr muss man konstant dafür kämpfen , um dorthin zu gelangen – ganz gleich , an welchem Punkt man gerade steht . Es ist eine permanente Aufgabe , ein kontinuierliches Streben nach Freiheit . Andererseits bin ich davon überzeugt , dass jeder Mensch in der Lage ist , sich selbst eine Wohnumgebung
zu gestalten und einen Ort zu kreieren , der den eigenen Bedürfnissen am besten entspricht . Als Architekt bin ich in der glücklichen Lage , dies in größerem Stil tun zu können : Momentan bauen wir beispielsweise mitten in Brooklyn Sozialwohnungen . Bei diesem Projekt werden wir mit einem sehr begrenzten Budget bessere Lebensbedingungen für ältere Menschen schaffen . Die Einheiten der Wohnanlage sind so gestaltet , dass sie den Menschen ein Gefühl von Freiheit vermitteln . Um unsere Lebenssituation zu verbessern , müssen wir vor allem erkennen , dass wir in erster Linie poetische Wesen sind . Wir sind nicht bloß irgendwelche Maschinen aus Fleisch und Blut , wir sind selbst Poesie – und so brauchen wir auch eine poetische Umgebung . Selbst wenn es nur eine Blume in einer kleinen Vase ist : Schon dieses bisschen Poesie reicht aus , um unsere Stimmung zu heben .
Marius Glauer , Künstler
Giacomettis Raum
Im Jahr 1949 schrieb der Schweizer Bildhauer , Maler und Grafiker in seine Notizen : „ Der Raum existiert nicht , man muss ihn schaffen .“ Ich erinnere mich an das Erleben dieses idealen Raums . Ein surrealistischer Perspektivwechsel : Wir stellen uns vor , wie Kunstwerke zu wohnen . Wir sind bronzene Skulpturen in der Giacometti-Galerie des Louisiana Museums für Moderne Kunst im dänischen Humlebæk . Wir blicken in unserem „ instant-décisif “ durch das gigantische Fenster der Galerie . Unser Fenster ist eine Membran , die es uns erlaubt , die resonanten Kräfte
der Welt zu erleben . Entschieden schauen wir auf diese Kräfte der Welt : Das vor uns stattfindende Leben erreicht uns und wir selbst blicken zurück mit Präzision , Charakter und Aura . Dem immerwährenden Geschehen der Welt schauen wir zu , ohne eingreifen zu müssen , ohne ihr ausgesetzt zu sein . Wir wohnen integriert in den Resonanzen der Welt . Ein entschleunigter Raum und ein Fenster : das ewige Bild . Der Betrachter nimmt wahr , dass in der Schöpfung der Skulpturen mit den Mitteln der Kunst auf den Weltimpuls geantwortet wurde . Die Skulpturen sind ein Spiegel von Existenzweisen . Ihr Sein hat Charakter . Sie verlieren ihre Perspektive auf die umgreifenden Kräfte nicht , sondern halten ihren Blick konstant in jene Realität , die wir im Alltag eines normalen Lebens zu vergessen neigen . Ihre Haltung erinnert uns . So prägt uns ihre Prägung .