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Jochen A . Werner , Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender , Universitätsmedizin Essen
Digital und nachhaltig werden
Digitalisierung ist der Königsweg zu einem modernen Gesundheitssystem . Sie muss begleitet werden von einer signifikanten Ausdünnung der Krankenhauslandschaft . Darunter wird die flächendeckende medizinische Versorgung nicht leiden , im Gegenteil : Durch Digitalisierung und Stärkung der Telemedizin lassen sich Kompetenzen bündeln , kann die Expertise spitzenmedizinischer Zentren auch auf kleinere Kliniken und Einrichtungen übertragen werden . Der durch die Pandemie ins Stocken geratene Kurs zur Digitalisierung des Gesundheitssystems gehört dringend fortgesetzt . Das Krankenhauszukunftsgesetz mit der Förderung der digitalen Modernisierung ist dafür ein wichtiger , aber auch nur erster Schritt . Zu einem zukunftsfähigen Gesundheitssystem gehört zwingend ein Bereich , der bislang nicht im Fokus stand : Umweltschutz und Nachhaltigkeit . Nur in einer gesunden Umwelt werden und bleiben Menschen dauerhaft gesund . Wir müssen diesen Gedanken im Selbstverständnis der Medizin viel tiefer implementieren
als bislang . Die Gesundheitswirtschaft emittiert weltweit mehr als der Flugverkehr oder die Schifffahrt . In Deutschland sind es jährlich rund 60 Millionen Tonnen CO 2 -Äquivalent und damit 5,2 Prozent der gesamten Emissionen . Daraus erwächst die Pflicht zum konkreten , nachhaltigen Handeln . Die Digitalisierung ist nicht nur Basis und Wegbereiter für ein leistungsfähiges und menschliches , sondern zunehmend auch für ein „ grünes “ Gesundheitssystem .
Soo-Youn Lee , Gesundheitsmarktforscherin
Potenziale freisetzen
Mit den Megatrends Individualisierung und Digitalisierung befinden wir uns auch beim Thema Gesundheit inmitten eines tektonischen Wandels – mit einer mitwachsenden Industrie , die diese Bedürfnisse bedient . Die Menschen beginnen zu verstehen , dass sie zu ihrer Gesundheit einen eigenen Beitrag leisten können . Dies zeigt sich im Trend nach Prävention und Wellbeing und einem dazu passenden wachsenden Angebot an Apps , etwa für besseren Schlaf , mehr Fitness oder Achtsamkeit . Menschen
Nicht genug Pesonal
Zugang zu Behandlungen
Bürokratie
Die alternde Bevölkerung
Kosten für Zugriff auf Behandlungen
Deutschland Weltweit
58 %
Umfrage unter 21.513 Personen in 30 Ländern zwischen 16 und 74 Jahren ( in Deutschland 1.000 Personen ),
August-September 2021 ; Mehrfachnennung möglich
Quellen : Ipsos , PwC
mitzunehmen und individuell zu behandeln , ist auch in der Medizin mit dem Konzept der Patientenzentrierung in den Fokus gerückt . Die digitale Vernetzung von Daten , Wissen und Akteuren bietet enormes Potenzial für eine personalisierte Versorgung . Aktuell sind dafür noch einige Barrieren zu überwinden , wie die Implementierung der digitalen Infrastruktur und die Vereinheitlichung von internationalen Regularien . Derweil nimmt der Einsatz digitaler Therapeutika Fahrt auf , etwa bei den digitalen Gesund-
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DIGITALISIERUNG
heitsanwendungen ( DiGA ). Deutschland hat hier in Vorreiterrolle klare Bedingungen festgelegt und wurde so als Markt für Apps auf Rezept besonders attraktiv . Eine Win-Win-Situation , denn von einer solchen Klarheit profitieren zum einen medizinische Anbieter , zum anderen stärkt dies die Innovationskraft am Standort . Der Schlüssel zum Erfolg für die Verbesserung eines so komplexen Systems wie dem der Gesundheit liegt in der Synchronisierung aller beteiligten Akteure und Ebenen .
Manfred Sailer , Leser
Klotz am Bein
Unzählige sogenannte Finanzdienstleister bieten Arztpraxen ihre Hilfe bei der Rechnungserstellung für Privatpatienten an . Als Privatpatient erhalte ich dann Rechnungen , die mit obskuren und fantasievollen Positionen und Begründungen auf ein 3,5-faches Honorar aufgebläht werden . Nicht selten verweigern die privaten Krankenkassen manche Erstattung als „ unkorrekt “. Wagt man es , diese Beträge bei der Inkassofirma abzuziehen , löst man
Klaus Reinhardt , Vorsitzender Hartmannbund
Nicht ohne uns
Die Gesundheitspolitik in Deutschland braucht innovative Impulse . Zukunftsfeste Lösungsansätze sollten dabei – so weit wie möglich – ohne Denkverbote diskutiert werden . Darauf müssen wir als Ärzteschaft vorbereitet sein . Unser Beitrag wird auch davon abhängen , mit welcher Kompetenz und mit
einen gewaltigen Vorgang von Mahngebühren , Verzugszinsen und Drohungen mit Gerichtsvollziehern aus . Nichts gegen eine angemessene Bezahlung der Ärzt : innen , aber diese Firmen treiben die Kosten des Gesundheitssystems künstlich in die Höhe . Arztpraxen verfügen über ausgereifte Computerprogramme und geschultes Personal , um die Rechnungen inklusive Buchhaltung und Mahnwesen in eigener Regie zu erstellen . Wenn man schon das Zwei-Klassen-System mit den Privatversicherten nicht abschaffen kann oder will , dann wenigstens weg mit den unnötigen Inkassofirmen .
welchen Konzepten wir als deutsche Ärzteschaft sektorenverbindend konkrete Vorschläge zur Problemlösung unterbreiten können . Es wird unsere gemeinsame Aufgabe sein , die Politik davon zu überzeugen , dass kurzfristige Einspareffekte die dringend erforderlichen grundsätzlichen Korrekturen an einem in Schieflage geratenen System nicht ersetzen können . Es braucht den Dialog mit uns Ärztinnen und Ärzten über eine wirklich funktionierende digitale Kommunikation , über eine effektive Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe , über eine sinnvolle Auflösung von überflüssigen Sektorengrenzen oder etwa
Konrad Reinhart , Gründungspräsident Global Sepsis Alliance
Unterschätzter medizinischer Notfall
Die Zahl vermeidbarer Todesfälle gilt als Qualitätsindikator eines Gesundheitssystems . In Deutschland erleiden jährlich mehr als 340.000 Erwachsene eine Sepsis ,
über Leitplanken , die vernünftiges wirtschaftliches Denken im Gesundheitswesen wirkungsvoll von medizinfremdem Renditestreben abgrenzen . Für einen konstruktiven Dialog mit uns ist es entscheidend , dass staatliche Eingriffe nicht immer mehr die Räume einengen , uns in diesem System frei zu organisieren . Wir werden der Politik deutlich machen , dass sie keine Pläne für die Zukunft gegen die Akteure des Gesundheitssystems wird umsetzen können . Wenn darüber Einigkeit besteht , dann gilt es , sich zu sammeln und gemeinsam Zielmarken zu definieren . Wir sind dazu bereit .
etwa 100.000 sterben daran . Viele wissen nicht , dass die Mehrheit dieser Todesfälle vermeidbar ist : durch eine verbesserte Infektionsprävention zum Beispiel durch Impfungen gegen Pneumokokken , Grippe oder COVID-19 , das frühe Erkennen einer Sepsis und ihre Behandlung als Notfall . Die Weltgesundheitsorganisation hat daher 2017 in einer Resolution alle Mitgliedstaaten aufgefordert , die Bekämpfung von Sepsis in ihre Gesundheitsstrategien zu integrieren . Eine Sepsis , auch Blutvergiftung genannt , ist die schwerste Verlaufsform akuter Infektionskrankheiten . Die häufigsten ursächlichen Erreger sind Bakterien und Viren , etwa Grippe – aber auch Coronaviren . Das Eindringen der Erreger in die Blutbahn führt zu heftigen Abwehrreaktionen des Immunsystems , die auch körpereigene Organe wie Lunge , Herz und Niere schädigen . Unbehandelt führt dies innerhalb von Stunden zu tödlichem Mehrfachorganversagen und zum septischen Schock . Eine Sepsis-Checkliste ( www . sepsis . science / checklist ) informiert über Risikofaktoren und hilft bei der Entscheidung , den Notarzt zu rufen . Informationen findet man bei der Sepsis Stiftung , der vom Bundesgesundheitsministerium unterstützten Kampagne „ Deutschland erkennt Sepsis “ und auf den Partner-Webseiten .