+3 Magazin April 2019 | Page 11

+2 LEBENSWANDEL Darauf verzichten wir für hochwertige Lebensmittel Rauchen Ausgehen 58% 46% Hund Urlaub 40% 27% Auto Haus 20% 18% Sport Kein Verzicht 17% 16% Quellen: Kaufland, Statista Stevan Paul, Foodjournalist und Kochbuchautor Jünger des Zeitgeists Im Strudel von kulinarischen Trends, TV-Kochshows und einem ewigen Strom hochgejazzter Food-Foto-Bild- welten in den sozialen Medien begin- nen wir, uns von einer gewachsenen und lebendigen Esskultur zu entfer- nen. Immer öfter bedeutet Essen ein- fach Pop. Ernährung ist zum Mittel der Selbstdarstellung, der vermeint- lichen Selbstoptimierung geworden. Essen als Religion und Glaubensbe- kenntnis. Wir kennen uns aus mit Superfoods und Sous-vide-Garmetho- den, kaufen teure Küchenmaschinen Wolfgang Loggen, Leser Mit allen Sinnen genießen Kultur kommt von „cultura“, was so viel wie „Pflege“ oder „Bearbeitung“ bedeutet. So steckt in jedem Essen nur die Kultur, die ihm gegeben wird. Meine Formen der Bearbei- tung, der Zubereitung, der Aufnah- me eines guten Essens sind: beim Kauf Massentierhaltung und Über- fischung der Meere nicht zu unter- stützen und ein Stück Fleisch oder Fisch stets als ein Stück Natur bezie- hungsweise Leben zu sehen, ökologi- schen Landbau zu fördern, auf Fer- tigprodukte möglichst zu verzichten und auf ein unnötiges Überangebot nicht zu reagieren. Ich brauche zum und die zugehörigen Rezepthefte, die uns den Nutzen erklären – aber kaum jemand versteht sich noch auf die Zu- bereitung einer guten Kartoffelsuppe. Wir verlernen das Kochen und die Fähigkeit, Kochen auch zu verstehen. „Ohne ist das neue Mit“, heißt es da- rüber hinaus – bis nichts mehr übrig- bleibt außer lustfeindlicher Verzicht, Verbot und Selbstkasteiung. Wir fol- gen zeitgeistigen Trends und Mar- ketingversprechen, statt individuell für uns selbst zu sorgen, statt endlich wieder zu kochen – und zu genießen –, was uns guttut. Es geht mir dabei nicht um einen Konservatismus um jeden Preis, sondern um die Belebung und Weiterentwicklung unserer ge- wachsenen Koch- und Genusskultur – auf der Basis von Handwerk und Wissen, nicht als popkulturelle Nische oder Distinktionsmerkmal. Beispiel in meiner Küche keine zehn verschiedenen Salzsorten. Für mich isst, einem alten Sprichwort folgend, das Auge immer mit. Entsprechend einladend ist mein Tisch gedeckt. Ich versuche meinen Gästen zu zei- gen, dass ich mich um ein gutes Es- sen bemüht habe, ohne dass es Mühe war, sondern letztlich ein mich be- friedigendes Geschenk. Gutes Essen schlägt sich vom Gaumen auf die Stimmung bei Tisch nieder und führt zu entspannten Gesprächen. Wenn dann Wein für zusätzliche Gaumen- freuden sorgt, habe ich eine der äl- testen Kulturen mit auf den Tisch gebracht. Essen wird nicht zum rei- nen Sättigungsakt und artet nicht in Gefräßigkeit aus. Zu guter Letzt: Ich versuche, (fast) keine übriggebliebe- nen Lebensmittel wegzuschmeißen. Guten Appetit! 11 Ursula Hudson, Vorsitzende Slow Food Deutschland Kultur und Landschaft schmecken Essen ist nicht nur der größte Bezie- hungsstifter, sondern auch ein wich- tiger Kulturvermittler. Lebensmit- telerzeugung hat mit dem Aussehen unserer Kulturlandschaften zu tun, Rezepturen und Zubereitungen ge- hören zu unserem kulturellen Erbe. Mit der Vielfalt auf unseren Tellern schützen wir also nicht nur unsere Umwelt und unser Klima, sondern wir bewahren damit auch die wun- derbare weltweite kulinarische Di- versität und unsere Identität. Die Kartoffel, der Apfel oder die Zwiebel aus kleinbäuerlicher Landwirtschaft vom Bodensee schmecken anders als ihre Pendants aus Norddeutschland. In ihnen entfaltet sich der regional- typische Geschmack von Sorte, Bo- den und Klima. Bei tierischen Pro- dukten wirken sich neben Rasse und Haltungsform auch die regionalen Futtermittel auf den Geschmack aus: Die Milche von Kühen, die sich von Alpweide, Silage oder Kraftfutter ernährt haben, schmecken unter- schiedlich. Neben den spezifischen Produktionsbedingungen verleihen das Wissen und das Können von Lebensmittelhandwerkern unserer Nahrung ihren individuellen Ge- schmack. Deshalb macht sich Slow Food für den Erhalt dieses Hand- werks stark und möchte Menschen wieder für lokaltypische Obst-, Reb- und Gemüsesorten sowie Tierrassen begeistern. Mit Projekten wie der „Arche des Geschmacks“ schützen wir alte Sorten und Rassen, die von unseren Speiseplänen zu verschwin- den drohen. Monika Rohs-Dressel, Leserin Schein oder Sein? Ein spannendes Spiel in der Schlange an der Supermarktkasse: aus dem In- halt des Einkaufswagens der anderen auf Essverhalten, Lebenssituation und Persönlichkeit schließen. Was es da wohl am Wochenende zu Essen gibt? Rotkohl und Fleisch – eher konserva- tiv und älter. Bio-Tofu, Smoothie und eingeschweißte Rote Beete – eher jung und öko. Viele Süßigkeiten und Corn- flakes – Kinder und die Eltern beide voll berufstätig. Haben sie gesunde Er- nährung schon aufgegeben? Oder ist alles ganz anders? Und was ist aus dem Inhalt meines Einkaufswagens zu er- kennen? Möchte ich, dass sich andere darüber Gedanken machen? Anzeige ›